Indien:
Das Recht auf Nahrung für alle verwirklichen
Indien hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten erhebliche Fortschritte bei der Bekämpfung von Hunger und Unterernährung erzielt, doch sie sind ungleich; noch immer sind viele Inder benachteiligt. Jetzt ist es an der Zeit, das Recht auf Nahrung für alle geltend zu machen und das Ziel „Zero Hunger“ Wirklichkeit werden zu lassen.
Wem nützen volle Lager, wenn die Menschen hungern? Es darf nicht zwei verschiedene Indiens geben. Richter am Obersten Gericht Indiens, 21. April 2011
Indien ist ein land der scharfen gegensätze. Insgesamt leben 22 Prozent der indischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze (Government of India 2013), gleichzeitig sind dort 84 Milliardäre ansässig (Forbes 2016). Mehr als 50 Prozent des landesweiten Vermögens sind im Besitz von nur einem Prozent der Bevölkerung. Indien ist der zweitgrößte Nahrungsmittelproduzent der Welt und beherbergt zugleich die weltweit zweithöchste Zahl unterernährter Menschen (FAO 2015).
Diese Seite der Geschichte wird durch Indiens Wert von 28,5 im diesjährigen Welthunger-Index (WHI) verdeutlicht (von Grebmer et al. 2016). Brasilien, Russland, China und Südafrika, die gemeinsam mit Indien die hoch gehandelte Gruppe der BRICS-Staaten bilden, können allesamt einstellige Werte aufweisen. Auch Indiens Nachbarn, darunter Bangladesch, Nepal, Sri Lanka und Myanmar, haben bessere WHI-Werte. Obwohl es gelungen ist, die Verbreitung von Wachstumsverzögerung bei Kindern in Indien in den letzten zehn Jahren um nahezu die Hälfte zu verringern (IFPRI 2015), lebt dort immer noch ein Drittel aller Kinder mit Wachstumsverzögerung weltweit (UNICEF et al. 2016); die Hungersituation des Landes fällt somit im diesjährigen WHI-Bericht in die Schweregradkategorie ernst.
Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung hat sich nun zum Ziel gesetzt, den Hunger zu beenden, Ernährungssicherheit zu erreichen und nachhaltige Landwirtschaft zu fördern. Dadurch sollen Unterernährung bei Kindern beseitigt, der ganzjährige Zugang zu ausreichender Nahrung für jeden Bürger und jede Bürgerin durch nachhaltige Ernährungssysteme gesichert, Produktivität und Einkommen von Kleinbauern verdoppelt sowie Verluste und Verschwendung von Nahrungsmitteln vermieden werden.
Der Regenfeldbau ernährt zwar nahezu 40 Prozent der indischen Bevölkerung (Government of India 2012), diese Art der Landwirtschaft ist aber durch Dürren sehr gefährdet. Deren Folge sind häufig Ernteausfälle, die die Bauern in immer tiefere Schulden stürzen.
Die zentrale Aufgabe im Kampf für eine Welt ohne Hunger und Fehlernährung wird es sein sicherzustellen, dass bei der Bemühung um Ernährungssicherheit niemand benachteiligt oder zurückgelassen wird („leave no one behind“). In Indien muss zu diesem Zweck insbesondere die Gesundheit von Frauen und Kindern erheblich verbessert werden.
Die indische Regierung erließ im Jahr 2013 den „National Food Security Act“ (Nationales Gesetz zur Ernährungssicherheit, NFSA), ein Gesetz zur landesweiten Ernährungssicherung, das „die Gewährleistung von Ernährungssicherheit […] durch Zugang zu ausreichenden Mengen an hochwertiger Nahrung zu erschwinglichen Preisen“ garantieren soll, damit „die Menschen ein Leben in Würde führen können“ (Ministry of Law and Justice 2013).
Der NFSA von 2013 schafft einen gesetzlichen Anspruch auf Beteiligung an bestehenden Regierungsprogrammen zur Ernährungssicherung. Vor allem aber hat er die Art und Weise verändert, wie über Nahrung verhandelt wird: Sie wird nun als Menschenrecht verstanden und der Staat somit in der Pflicht gesehen, bestimmte grundlegende Ansprüche zu befriedigen. Allerdings stellt sich die Frage, ob sich die Lebensqualität aller Menschen seitdem tatsächlich verbessert hat. Die Nahrungsmittel, die die Regierung im Rahmen ihrer Beschaffungs- und Verteilungsmaßnahmen zur Verfügung stellt, können zwar den Kalorienbedarf eines Teils der Bevölkerung decken. Das System hat allerdings auch die Ernährungsgewohnheiten dieser Menschen verändert: Sie sind nun auf Reis und Weizen angewiesen und die traditionelle Diversität ihrer Nahrung ging verloren. Dadurch sank der Anteil an Mikronährstoffen in ihrem täglichen Essen.
Die Zurückgelassenen
Unter den ärmsten Menschen Indiens sind diejenigen, die sogenannten Registrierten Kasten und Stämmen angehören – traditionell unterdrückte Bevölkerungsgruppen, deren Interessen in Hinblick auf Bildung und wirtschaftliche wie soziale Entwicklung durch entsprechende Regelungen in der Verfassung als besonders förderungs- und schutzwürdig berücksichtigt sind. Unter den Registrierten Kasten sind Millionen von Dalits oder „Unberührbaren“, die noch immer unter endemischer Diskriminierung zu leiden haben. Das Gleiche gilt für die Registrierten Stämme, ein Begriff, unter dem auch als Adivasis bekannte indigene Gruppen zusammengefasst werden. Häufig sind sie benachteiligt, unter anderem weil sie in abgelegenen Regionen leben. Daraus folgt, dass Dalits und Adivasis überproportional von Armut betroffen sind. Indien hat mit 104 Millionen Menschen, die fast 700 unterschiedlichen ethnischen Gruppen angehören, die zweitgrößte indigene Bevölkerung der Welt (Government of India 2011). Während im Landesdurchschnitt 28 Prozent der Inder unterhalb der Armutsgrenze leben, sind es bei der indigenen Landbevölkerung 48 Prozent (Rao 2012). Das Ausmaß der Armut und der Ernährungsunsicherheit der indigenen Bevölkerung bleibt ein wesentliches Problem, ungeachtet der Maßnahmen zur überwindung ihrer Diskriminierung, die in der indischen Verfassung verankert sind.
Die Adivasis mussten mit ansehen, wie man sich ihres Landes bemächtigte, ihre Umwelt zerstörte und ihr traditionelles Wissen zur Ware degradierte. Dies war ein ungleiches Geschäft zulasten ihrer Lebensweise und ihres Wohlergehens, angefangen mit ihrer Gesundheit und der Sicherung ihrer Ressourcen für künftige Generationen. Schutzmaßnahmen, wie zum Beispiel das Einholen ihrer auf sorgfältiger Aufklärung basierenden Zustimmung (informed consent) zu Verkäufen, fielen der Eile zum Opfer, mit der man sich in großem Ausmaß den Wald und seine Erzeugnisse aneignete und verkaufte.
Die Probleme der indigenen Völker Indiens werden auch in einer Studie des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (United Nations Children’s Fund, UNICEF) weiter verdeutlicht. Untersuchungen in elf Bundesstaaten ergaben, dass jedes zweite Adivasi-Kind an Wachstumsverzögerung leidet, 68 Prozent der Adivasi- Mütter jünger als 20 Jahre und 48 Prozent von ihnen unterernährt sowie 76 Prozent anämisch sind. Zudem zeigt die Studie, dass das Risiko schwerer Wachstumsverzögerung bei Mädchen zwischen sechs und 23 Monaten beinahe doppelt so hoch ist wie bei Jungen desselben Alters (UNICEF 2014). Das könnte an der Verteilung von Nahrungsmitteln innerhalb der Haushalte liegen, bei der die Geschlechter ungleich behandelt werden. Frauen bekommen als Letzte und häufig nur die Reste zu essen. Die Umsetzung des Food Security Act und einer Reihe weiterer Gesetze zur Behebung dieser Probleme stellt eine Herausforderung dar. Die Adivasis leben oft in weit abgelegenen, schlecht angebundenen kleinen Dörfern, was die Logistik und die Bewertung der Lage erschwert. Erst wenn die Nachricht von Hungertoten zu öffentlicher Empörung führt, beschäftigt sich die Gesellschaft mit der Qual dieser hungernden Menschen. Diesen Gruppen muss vor allen anderen geholfen werden.
Trotz knappem Land ist Vielfalt möglich
Meine Freunde wollten keine Landwirtschaft betreiben. Ich habe ihnen gesagt, dass die Sortenvielfalt, die wir in unserem Dorf haben, nicht verloren gehen darf. Letztes Jahr habe ich 70 verschiedene Sorten angebaut und konnte mich das ganze Jahr davon ernähren. Ich habe meinen Nachbarn aufgetragen, dieses Jahr 80 Sorten anzubauen. Adi Kumbruka, junger Bauer aus dem Dorf Kanduguda, Odisha
Die Welthungerhilfe arbeitet seit 1965 in Indien. Derzeit setzt sie sich vor allem für die Mobilisierung und Bewusstseinsbildung der ausgegrenzten und armen Gemeinschaften ein und unterstützt sie dabei, ihre Rechte und Ansprüche zur Bekämpfung von Hunger und Armut durchzusetzen. Die Ansätze der Welthungerhilfe beruhen auf vier Säulen der Ernährungssicherheit: der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in ausreichender Menge und Qualität, dem physischen und wirtschaftlichen Zugang der Menschen zu diesen Nahrungsmitteln, den Gesundheitsund Hygienebedingungen, die es den Menschen ermöglichen, den vollständigen Nutzen aus diesen Nahrungsmitteln zu ziehen, sowie der ganzjährigen Stabilität dieser Faktoren.
Die Welthungerhilfe arbeitet in Indien mit einer Reihe von Partnern aus der Zivilgesellschaft zusammen. Sie wendet dabei einen rechtebasierten Ansatz an, der diese vier Aspekte der Ernährungssicherheit berücksichtigt. Viele Projekte werden in Bundesstaaten und Regionen durchgeführt, in denen extreme Unterernährung herrscht.
Einer dieser Partner, die Nichtregierungsorganisation (NRO) Living Farms, unterstützt in der trockenen, hügeligen Region des Bundesstaats Odisha im östlichen Indien landlose und ausgegrenzte Kleinbauern dabei, sich selbstbestimmt zu ernähren und ihre Lebensqualität durch eine ökologische und nachhaltige Landwirtschaft zu steigern. Zu diesem Zweck arbeitet Living Farms daran, dass diese Bauern wieder über ihre Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme verfügen können. Dies erreichen sie durch den Schutz, die Wiederherstellung und die Neubelebung von Artenvielfalt. Auf Haushaltsebene werden Maßnahmen eingeführt, die auf den begrenzten Flächen die Produktivität und damit auch die Menge der verfügbaren Nahrung steigern sollen.
Im Dorf Kerandiguda im Distrikt Rayagada arbeitet Living Farms mit Loknath Nauri zusammen, einem Bauern von über 60 Jahren, der mit den landwirtschaftlichen Methoden arbeitet, die die indigene Bevölkerung schon seit Jahrzehnten anwendet. Loknath Nauri verfügt über einen ungeheuren Wissensschatz. So kann er zum Beispiel an der Ausrichtung von Vogelnestern erkennen, woher die Regenfälle kommen werden. Auch wann es regnen wird, kann er voraussagen, wenn er die Bohnen in den Schoten einer dort verbreiteten Schlingpflanze betrachtet. Diese und viele andere Lektionen gibt er an andere Bauern weiter. Auch wenn Loknath Nauri nur einen Hektar Land besitzt, hat er reichlich Nahrungsmittelvorräte zu Hause eingelagert. Er baut auf seinem Land 72 verschiedene Arten von Nutzpflanzen an. „Wenn man verschiedene Pflanzensorten anbaut, ist man weniger durch Dürre oder andere Belastungen gefährdet. Ich ernte von September bis Januar und habe das ganze Jahr über Gemüse“, sagt Loknath Nauri.
Living Farms führt eine umfangreiche Liste von Kleinbauern, die auf ihrem Land mehr als 50 verschiedene Arten anbauen. Tausende bauen mehr als 20 verschiedene Nutzpflanzen an und sind so den Krisen nicht mehr völlig ausgeliefert, die Bauern in anderen Regenfeldbauregionen des Landes bedrohen. Diese Stabilität ist insofern wichtig, als Bauern leicht in Versuchung kommen könnten, Produkte zum Verkauf anzubauen, wie zum Beispiel Baumwolle, Cashewnüsse, Palmöl, Zuckerrohr oder Eukalyptus. Das würde bedeuten, dass ihnen weniger Nahrungsmittel zum eigenen Verzehr zur Verfügung stünden. Debjeet Sarangi, ein Mitarbeiter von Living Farms, erklärt, dass die NRO gemeinsam mit Wissenschaftlern daran arbeitet, die Vorteile der traditionellen Pflanzensorten wiederzuentdecken, die ungleichmäßige Niederschläge und hohe Temperaturen aushalten und trotzdem reiche Ernten einbringen. „In dieser Gemeinschaft gibt es schon längst traditionelle Reissorten, die reich an Mikronährstoffen, Zink, Eisen, Magnesium und Kalzium sind, während weltweit Forscher in Labors daran arbeiten, solches Saatgut zu entwickeln“, sagt Debjeet Sarangi und fügt hinzu, dass die Adivasis den Gebrauch chemischen Düngers auf ihrem Land ablehnen und stattdessen eigenen Kompost herstellen.
In Jharkhand unterstützt Pravah, ein weiterer Partner der Welthungerhilfe, Familien ohne eigenes Land dabei, neben ihren Häusern Küchengärten anzulegen und auf den Brachflächen der Gemeinschaft Nahrungspflanzen anzubauen. Auf den Agrarflächen hält wieder Vielfalt Einzug, unterstützt durch das Konzept der „nachhaltigen integrierten Landwirtschaftssysteme“ (Sustainable Integrated Farming Systems, SIFS), die nach dem Prinzip landwirtschaftlicher Planung funktionieren und in denen alle verfügbaren Ressourcen, Zeit und Raum eingeschlossen, so effizient wie möglich genutzt werden. Robuste, dürreresistente Hirsepflanzen sind nun wieder Teil des Erntezyklus. Aus Abfällen der Vieh- und Geflügelhaltung und der Aquakultur wird in einem Bio-Faulbehälter reichhaltiger Dünger produziert, und aus der Agroforstwirtschaft wird Futter für die Tiere gewonnen. Der verfügbare Raum auf dem Hof und auf den Agrarflächen wird zum Anbau verschiedener Erntepflanzen genutzt, manchmal in mehreren Schichten übereinander. Die Ernten werden so geplant, dass es ganzjährig Nahrung gibt und verschiedene Produkte für den Markt übrig bleiben. Außerdem wird so der Mikronährstoffmangel behoben und für eine abwechslungsreiche Ernährung der Bevölkerung gesorgt.
Pravah arbeitet eng mit Bauern wie Nandlal Singh zusammen, der rund einen Hektar Land besitzt. Nandlal Singhs Geschichte ähnelte der vieler anderer Bauern in der Region: Schulden, Ernteausfälle, Abwanderung und Hypotheken. Inzwischen hat sich seine Situation verbessert. Durch Planung und integrierte Landwirtschaft konnte Nandlal Singh nicht nur seine alten Schulden abtragen, sondern hat heute sogar Geld auf der Bank. Pravah vermittelte ihm erfolgreich Kenntnisse in Wurmkompostierung, ökologischem Landbau und integrierten Techniken zum Umgang mit Schädlingen und Nährstoffen, und dies verringerte die Produktionskosten in Nandlal Singhs Betrieb.
Die Ernährung der Familie ist nun abwechslungsreich und besteht aus bis zu acht Nahrungsmittelgruppen, darunter Getreide, Linsen, Obst und Gemüse. Nandlal Singh baut ganzjährig Nahrungsmittel an und hält zudem Rinder, Fische und Enten auf einer früheren Brache.
Was die Arbeit dieser beiden Organisationen auszeichnet, ist die geringe Verschuldung der Bauern, die an ihren Programmen beteiligt sind. Kleinen und ausgegrenzten Bauern wie Nandlal Singh oder Loknath Nauri fehlt es nicht an den Ressourcen, die sie für diese Art der Landwirtschaft brauchen. Dadurch sind sie nicht auf Kredite angewiesen und vermeiden so die Probleme, die durch Verschuldung entstehen. Debjeet Sarangi von Living Farms erzählt von Bauern, die früher mittellos waren, aber heute mehrere Ernten im Jahr erwirtschaften und dadurch, in Kombination mit der Haltung von Geflügel und anderen Nutztieren, ihre Familien vor Ernährungsunsicherheit schützen können. Aber vor allem, sagt Debjeet Sarangi, brauchen sie den Wald.
Wälder sichern eine gesunde Ernährung
15.2%
der indischen Bevölkerung sind unterernährt, weil sie ihren Kalorienbedarf nicht decken können.
38.7%
der Kinder unter 5 Jahren sind in ihrer Entwicklung zurückgeblieben (engl. „stunted“; zu geringe Körpergröße für ihr Alter), ein Beleg für chronische Unterernährung.
15.1%
der Kinder unter 5 Jahren sind ausgezehrt (engl. „ wasted“; zu geringes Gewicht für ihre Körpergröße), ein Beleg für akute Unterernährung./p>
4.8%
der Kinder sterben, bevor sie 5 Jahre alt werden.
Die Ernährung der Adivasis war früher sehr abwechslungsreich. Aber durch jahrelange Planung und Kontrolle der Ressourcen durch die Regierung verloren diese Bauern die Fähigkeit, die Sorten anzubauen, die ihre Stämme über Generationen ernährt hatten.
...erklärt Debjeet Sarangi.
Diese Entwicklung hat unter anderem dazu geführt, dass die Sortenvielfalt und die verfügbaren Waldressourcen mit der Zeit massiv zurückgegangen sind.
Damit spielt Debjeet Sarangi auf Belege dafür an, dass große Waldgebiete auf betrügerische Weise erworben werden. „Für die Behörden ist es nur ein Waldstück weniger, aber tatsächlich wirkt sich der Verlust dieser Wälder auch auf die Essgewohnheiten und die Ernährung der indigenen Bevölkerung aus“, sagt er. „Durch das Vorgehen der Regierung verringerte sich im Laufe der Zeit die Bandbreite der Waldfauna, der Blumen, Früchte, Gemüsepflanzen und Pilze, die die indigenen Gemeinschaften früher verzehrten. Sie sammeln 25 Sorten Wurzeln und Knollen, 35 Fruchtsorten und verschiedene Samen in den Wäldern. Außerdem bringt der Wald über das Jahr 40 verschiedene Blattgemüse hervor, Pilze sowie verschiedene Vögel, essbare Insekten und weitere Nahrungsmittel. überdies beheimaten die Wasserstellen in den Wäldern eine Vielzahl von Schnecken, Fischen und Krebsen“, erklärt Debjeet Sarangi. Diese Vielfalt der Wälder ist nun bedroht; ganze Arten sind bereits verschwunden, was eine ausgewogene Ernährung der Familien erheblich erschwert.
Die Frauen in Rayagada wehren sich nun gegen Pläne der Forstbehörde, kommerziell verwertbare Bäume zu pflanzen. Sie fordern, dass stattdessen Bäume gepflanzt werden, die mehrere Zwecke zugleich erfüllen. Durch ihre Initiative konnten der Waldbewuchs gerettet und 275 Arten mikronährstoffreicher, wildwachsender Nahrungsmittel wieder eingeführt werden. Rua Ulaka, eine Bäuerin aus dem Dorf Lanji im Distrikt Rayagada, ist Teil dieser aktiven Bürgerbewegung, was sich in ihrer Sorgfalt im Umgang mit ihren Wäldern und dessen ökosystem zeigt. Gemeinsam können die Adivasis erreichen, dass dieses wertvolle Gut nicht kommerzialisiert wird. Letztlich hat die Arbeit von Living Farms und Pravah gezeigt, dass Familien mit sehr geringem Landbesitz, aber ungehindertem Zugang zum Wald sehr wohl in der Lage sind zu überleben – und zwar in Würde.
Jeder Tag ein Kampf gegen Hunger
Früher haben die Frauen ihre Babys weder wiegen lassen noch sie gestillt; aus Aberglauben. Das ist heute anders. Die Mütter fragen mich jetzt: ‚Wie viel wiegt mein Kind?‘ Frauen tragen Schuhe, die Familien haben Toiletten, Mädchen wehren sich dagegen, früh verheiratet zu werden, und Kinder kommen im Krankenhaus zur Welt. In diesem Dorf ist in den vergangenen fünf Jahren kein einziges Kind gestorben. Sharmishta Raj, Gesundheitsberaterin im Anganwadi-Zentrum im Dorf Laxmipur in Odisha
Beide Organisationen engagieren sich nicht nur für die Verfügbarkeit ausreichender und nährstoffreicher Nahrungsmittel, sondern arbeiten auch darauf hin, in den Gemeinden das Bewusstsein für Gesundheitsvorsorge und die Bedeutung einer angemessenen Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern zu stärken und hier Veränderungen herbeizuführen.
Ein vielversprechender Ansatz, den Pravah in den Dörfern Jharkhands verfolgt, sind die sogenannten „Positive Deviance Sessions“ („Positive Abweichung“), die darauf abzielen, die Gesundheit akut unterernährter Kinder zu verbessern. Mit einem Anteil ausgezehrter Kinder unter fünf Jahren von 15 Prozent liegt Indiens Wert für akute Unterernährung an der Schwelle zu dem international als Ernährungsnotlage eingestuften Bereich. Babita Sinha, Programmleiterin bei Pravah, erklärt:
80 Prozent der Kinder in den Ernährungscamps nahmen an Gewicht zu und konnten von der Kategorie ‚moderat akute Unterernährung‘ (Moderate Acute Malnutrition, MAM) in die Kategorie gesunder Kinder umgestuft werden. Ein Beispiel für ein solches Programm ist ein 15-tägiges Praxiscamp, bei dem jungen Müttern und Schwangeren neue, nahrhafte Rezepte vorgestellt, nährstoffreiche, wild wachsende Nahrungsmittel gesammelt und verarbeitet sowie Fürsorgepraktiken für Kinder und regelmäßiges Händewaschen eingeführt werden.
Im Rahmen dieser Camps werden außerdem Entwurmungsprogramme durchgeführt und Eltern hinsichtlich veränderter Verhaltensweisen beraten. Wie Babita Sinha berichtet, bemerkten die Mütter beim Wiegen, dass ihre Kinder positiv auf diese Initiativen ansprachen:
Die Mütter freuten sich über alle Maßen, wenn ihre Kinder 500 Gramm zugenommen hatten.
Dieser Sensibilisierungsprozess war auch für die Experten von Pravah lehrreich. „Wir begriffen, warum Kinder der roten Kategorie [Kinder, deren Verhältnis von Gewicht zu Alter im niedrigsten Bereich der Wachstumstabelle der Weltgesundheitsorganisation liegt, was Unterernährung anzeigt] aus Familien innerhalb der Dörfer kamen, die alle in ähnlichen sozioökonomischen Verhältnissen lebten“, sagt Sweta Banerjee, Ernährungsspezialistin bei der Welthungerhilfe in Indien. Sie konnte beobachten, wie die Dorfgemeinschaften im Verlauf des Prozesses lernten, Ernährung mit guten landwirtschaftlichen Praktiken und dem richtigen Umgang mit natürlichen Ressourcen zu verknüpfen: „Wir stellten fest, dass es kein Zufall war, dass die Familien, aus denen diese Kinder kamen, entweder landlos waren oder unbewässertes Land in den oberen Gebieten der Hügel besaßen. Wir mussten unser Ernährungsprogramm darauf abstimmen, damit es diesen Familien zugutekommt.“
Ein entscheidender Durchbruch gelang, als die Frauen begriffen, dass der Kreislauf der Unterernährung durchbrochen werden kann, wenn man auf die jeweiligen Ernährungsbedürfnisse verschiedener Alters- und Geschlechtsgruppen achtet und dabei heranwachsende Mädchen, Schwangere und stillende Mütter einbezieht. Das Team von Pravah stellte fest, dass nahezu die Hälfte der Haushalte in den beteiligten Dörfern seitdem ihre Ernährungspraktiken verbessert haben. Auch im Bereich der persönlichen Hygiene auf Haushaltsebene konnten sichtbare Veränderungen verzeichnet werden. Zusammengenommen werden diese Maßnahmen nachhaltigen Einfluss auf die Gesundheit der Menschen in diesen Dörfern haben.
Das Recht auf Nahrung in die Praxis umsetzen
Die Initiative „Fight Hunger First“, die die Welthungerhilfe in Zusammenarbeit mit mehreren indischen Partnerorganisationen umsetzt, darunter Living Farms und Pravah, beruht auf der Prämisse, dass Menschen erst dann permanent aus dem Teufelskreis von Ungleichbehandlung und Diskriminierung ausbrechen können, wenn adäquate Sozialsysteme eingeführt werden und Grundrechte Geltung haben, darunter Zugang zu angemessener Bildung, ausreichender und adäquater Nahrung sowie Einkommen, bessere Gesundheitsdienste und die Behandlung als gleichberechtigte Bürger seitens des Staates.
Das durch den Food Security Act garantierte Recht auf Nahrung wird in konkrete Ansprüche übersetzt, die wiederum mittels verschiedener Programme umgesetzt werden. Beispiele sind die „Integrated Child Development Services“ (Integrierte Förderung der Kindesentwicklung, ICDS), die Schwangeren und Kleinkindern Gesundheits- und Ernährungsangebote zur Verfügung stellen, sowie die Maßnahme „Mid-Day Meals“ (Schulverpflegung, MDM), die für kostenlose Mittagessen für Schulkinder sorgt und so deren Gesundheit verbessert und den regelmäßigen Schulbesuch fördert. Der „National Rural Employment Guarantee Act“ (Nationales Gesetz über Beschäftigungsgarantien im ländlichen Raum, NREGA) garantiert Familien im ländlichen Raum bezahlte Arbeitsplätze. In einigen Fällen konnte so die Abhängigkeit vom „Public Distribution System“ (öffentliches Versorgungssystem, PDS) verringert werden, welches subventionierte Nahrungsrationen an die Bedürftigsten verteilt.
Die Umsetzung des National Food Security Act bleibt eine Herausforderung, vor allem in abgelegenen Dörfern. Zusätzlich fehlt es vielen Familien an Zugang zu bezahlter Arbeit, mit deren Lohn sie Nahrung und Bildung für ihre Kinder finanzieren und andere Haushaltsausgaben tätigen könnten.
So erhielten zum Beispiel Haushalte, die vom „Rural Employment Act“ umfasst waren, zwischen 2011/12 und 2013/14 im landesweiten Durchschnitt nur für 41 Tage pro Jahr bezahlte Arbeit (Desai et al. 2015). Das entspricht weniger als der Hälfte des in der Verfassung festgelegten Pensums. In Jharkhand ist die Lage vergleichbar. Es mutet beinahe ironisch an, dass die Regierung dort die Mindestanzahl bezahlter Arbeitstage, auf die die Haushalte per Gesetz Anspruch haben, auf 150 angehoben hat.
Im Rahmen der Initiative „Fight Hunger First“ werden gemeindebasierte Organisationen gegründet oder bereits bestehende gestärkt. Mechanismen zur Kontrolle der Politik durch die Bürger, wie zum Beispiel die sogenannten „community score cards“ (Bewertungskarten), werden eingeführt, damit die Gemeindemitglieder Ansprüche geltend machen und Dienstleister zur Rechenschaft ziehen können. Im Bundesstaat Jharkhand erreichte Pravah gemeinsam mit 13 weiteren NROs, dass künftig dreimal pro Woche Eier für das Schulessen verwendet werden. Ebenso konnte Living Farms die Regierungsbehörden davon überzeugen, Hirse in das ICDS-Programm aufzunehmen, vor allem in die Heimrationen für Schwangere. Die überzeugungsarbeit, die nötig war, damit die ICDS-Beamten die Rückmeldungen aus den Gemeinden wertschätzten, kann nur als Lehrstunde in Interessenvertretung gewertet werden. „Die Mitglieder der Gemeinden haben den Eindruck, dass die staatlichen Programme keinen Sinn ergeben. Auf der anderen Seite fühlen sich auch die Dienstleister behindert. Es besteht eine merkliche Kluft, und diese konnten wir mit unseren Instrumenten zur Beteiligung der Gemeinden überbrücken“, sagt Babita Sinha.
Eine Vereinigung von Selbsthilfegruppen, die von Pravah gefördert wird, berichtet von zahlreichen Beispielen, wie Frauen dazu ermutigt werden können, Führungsrollen zu übernehmen. Sie sind dadurch in der Lage, den Mitarbeitern der öffentlichen Verteilungsstellen oder den Leitern anderer Behörden zur Bereitstellung von Leistungen entgegenzutreten. Gleichzeitig sind die Mitarbeiter der Anganwadi-Gesundheitszentren nun mit den Frauen aus den Dörfern gleichgestellt. Rua Ulaka kennt nun ihre Rechte und Ansprüche als Bürgerin; sie weiß, was sie von der dörflichen Selbstverwaltung, dem Panchayat, zu erwarten hat, und dass sie das Recht hat, an der Gramsabha (der Dorfversammlung) teilzunehmen. Wenn die Adivasi-Frauen diese Rechte und Pflichten kennen, können sie die Regierenden zur Rechenschaft ziehen. Als Ergebnis der Arbeit von Pravah und Living Farms bekommen nun mehr Haushalte bezahlte Arbeit. Zudem wurde der Zugang zu einer ganzen Reihe von Sozialprogrammen der Regierung enorm verbessert, und so konnten der Teufelskreis der Armut unterbrochen und die Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaft gestärkt werden.
Das Projekt arbeitet außerdem mit der Initiative „Village Health & Nutrition Days“ (Dörfliche Gesundheits- und Ernährungstage) und Institutionen wie den „Village Health, Sanitation and Nutrition Committees“ (Dorfkomitees für Gesundheit, Sanitärversorgung und Ernährung) zusammen und kann dadurch Reichweite und Qualität der staatlichen Gesundheitsdienste stärken. Sharmishta Raj und ihre Kollegen vom Anganwadi- Zentrum in Lakhimpur betonen den positiven Einfluss der Zusammenarbeit mit Living Farms dank der effektiven Kommunikation zwischen dem Zentrum und den Gemeindemitgliedern. „In diesem Dorf ist in den vergangenen fünf Jahren kein einziges Kind gestorben“, sagt sie, und ihr Gesicht leuchtet vor Stolz – ein Beispiel dafür, was eine kleine Gruppe von Regierungsmitarbeitern vor Ort durch die Partnerschaft mit einer zivilgesellschaftlichen Organisation in einem entlegenen Winkel der Erde erreichen kann.
Erfolgreiche Hungerbekämpfung bedeutet Integration aller Gruppen
Ich baue genug Nahrungsmittel an, verdiene ausreichend Geld und erhalte staatliche Unterstützung zur Ernährung. Wir können sogar ein Mal in der Woche Fisch essen und haben Obst und Gemüse. Geeta Devya, aus dem Dorf Dhanway Naya in Jharkhand
Indiens landwirtschaftliches Wachstum stieg in den Jahrzehnten nach der „Grünen Revolution“ – die aus einer importabhängigen Wirtschaft ein Land machte, das aus eigener Kraft Ernährungssicherheit bieten kann – enorm an. Es wurde getrieben von technologischem Wandel, Großinvestitionen in Infrastruktur wie Bewässerung, Märkte und Straßen, der Entwicklung von Kreditinstituten, Agrardienstleistungen und der Vereinfachung von Preispolitiken. Dennoch brachte die „Revolution“ auch negative Auswirkungen mit sich. Daher ist nun eine ökologischere und gesellschaftlich nachhaltigere „Evergreen Revolution“ nötig.
Indien hat noch einen langen Weg vor sich, bis das Ziel „Zero Hunger“ erreicht ist. Mehr als 25 Jahre nachdem das Land seine Wirtschaft reformierte, hat sie einen entscheidenden strukturellen Wandel erlebt; die Planer haben ihre Aufmerksamkeit von der Landwirtschaft auf den Dienstleistungssektor und die verarbeitende Industrie verlegt. Nun muss die Landwirtschaft wieder Priorität erhalten, gemäß ihrer zentralen Rolle für die Ernährungssicherheit, Armutsbekämpfung und Arbeitsplatzbeschaffung. Die Abkehr von der Landwirtschaft bedeutet vor allem in Zeiten, in denen die Auswirkungen des Klimawandels deutlich sichtbar sind, eine Gefährdung der Ernährungssicherheit der 1,25 Milliarden Menschen, die in Indien leben.
Die Regierung hat sich kürzlich das ehrgeizige Ziel gesetzt, das Einkommen der Bauern bis zum Jahr 2022 zu verdoppeln (The Economic Times 2016). Dies entspricht einem anvisierten jährlichen landwirtschaftlichen Wachstum von über 14 Prozent. Es muss noch mehr unternommen werden, um die Rolle der Landwirtschaft für die Verbesserung der Ernährungssituation zu stärken, zum Beispiel durch die Umsetzung multisektoraler Strategien und Programme auf nationaler und subnationaler Ebene.
Es bedarf zudem größerer Anstrengungen, damit ausgegrenzte und landlose Kleinbauern tatsächlich Nutznießer dieser Programme werden. Denn noch immer werden zu viele Menschen bei den Bemühungen um ein Ende des Hungers in Indien benachteiligt und zurückgelassen. Das Ziel „Zero Hunger“ kann nur erreicht werden, wenn die am meisten ausgegrenzten Menschen nun ins Zentrum allen Denkens und Handelns gerückt werden.
Die indische Zivilgesellschaft, darunter auch die Partner der Welthungerhilfe, unterstützt diese Gemeinschaften dabei, die Kontrolle über ihr eigenes Leben übernehmen und die Durchsetzung ihres Rechts auf Nahrung verlangen zu können. Sie arbeitet ebenso eng mit der Regierung an der Umsetzung einer Reihe innovativer Ideen, um die Ernährungsunsicherheit und Unterernährung in entlegenen Teilen des Landes zu überwinden. Vor allem aber wird es in diesem Land des überflusses nur möglich sein, den nationalen Ernährungswiderspruch zu überwinden, wenn die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen beseitigt werden, die zur Diskriminierung der am stärksten gefährdeten Menschen in Indien führen.
über Diese Fallstudie
Die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen sind eine inspirierende und notwendige Handlungsaufforderung. Wir sind aufgerufen, den Hunger bis zum Jahr 2030 für alle Menschen zu beenden – und zwar für immer. Wie reagieren wir darauf? Wie können wir diese Aufforderung in die Tat umsetzen?
Die vorliegenden Fallstudien beleuchtet die Arbeit der Welthungerhilfe als Teil der Anstrengungen für eine Welt ohne Hunger. Auf der Grundlage langjähriger Erfahrung und fundierter Erkenntnisse arbeiten wir gemeinsam mit Regierungen und Partnerorganisationen daran, nachhaltige und langfristige Lösungswege auszubauen.
Im Zentrum dieser Programme stehen die Menschen. Ihre Geschichten zeigen, wie vielfältig die Herausforderungen sind, mit denen sie täglich konfrontiert sind: Sie müssen Widerstandsfähigkeit gegen die bewaffneten Konflikte in ihrer Umgebung aufbauen. Sie leben mit sozialer Ungleichheit und kämpfen dagegen an. Sie sind von den Auswirkungen des Klimawandels direkt betroffen und müssen versuchen, sie zu vermindern. Trotz des enormen Ausmaßes dieser Herausforderungen gibt es ein ebenso großes Potenzial, die ehrgeizigen Ziele für nachhaltige Entwicklung für alle Menschen zur Realität werden zu lassen.