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Haiti

 

Eine eingehendere Betrachtung von Hunger und Unterernährung


 
   
Oktober 2019
Foto: Welthungerhilfe/Thomas Rommel 2019; Eine Frau schöpft Wasser aus einem Fluss in Jean-Rabel, Département Nord-Ouest, Haiti. In den vergangenen Jahrzehnten wurde Haiti von mehreren Naturkatastrophen heimgesucht, die schwerwiegende Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit hatten. Missernten trugen zu steigenden Nahrungsmittelpreisen, Hunger und politischer Instabilität bei. Ausblenden
KARTE VON HAITI

Map of Haiti Anmerkung: Haiti ist in zehn Regionen (Départements) unterteilt. Aire Métropolitaine, einschließlich der Hauptstadt Port-au-Prince sowie anderer urbaner Gebiete, ist Teil der Region Ouest.

Haiti sah sich in den vergangenen Jahrzehnten mit immensen Herausforderungen konfrontiert, etwa mehrere Staatsstreiche, verheerende Naturkatastrophen sowie anhaltende Armut (Taft-Morales 2017). Haitis Armutsquote liegt nach den aktuellsten offiziellen Statistiken aus dem Jahr 2012 bei 25 Prozent. Das Pro-Kopf-BIP lag 2017 bei nur 766 US-Dollar – das entspricht weniger als einem Zehntel des Mittelwerts in Lateinamerika und der Karibik (World Bank 2019a). Das Land hat seit den 1950er-Jahren eine rasante Urbanisierung erlebt, doch seine Städte sind durch ein hohes Maß an Armut gekennzeichnet, und es mangelt an ausreichender städtischer Infrastruktur und öffentlichen Dienstleistungen, um die wachsende Bevölkerung angemessen zu versorgen (Lozano-Gracia und Lozano 2017).

Eine wichtige Rolle in der haitianischen Wirtschaft spielt der Agrarsektor, in dem die Hälfte aller Beschäftigten arbeitet, während 40 Prozent der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor und zehn Prozent in der Industrie zu finden sind. Die Landwirtschaft trägt 18 Prozent zum BIP bei, Dienstleistungen machen 23 Prozent und die Industrie 57 Prozent aus (World Bank 2019a). Die Mehrheit der Bäuerinnen und Bauern lebt von der Subsistenzlandwirtschaft und hat Zugang zu weniger als zwei Hektar Land (FEWS NET 2015). Der landwirtschaftliche Sektor ist damit als Existenzgrundlage und für die Ernährungssicherheit der Bevölkerung von zentraler Bedeutung, leidet jedoch unter Umweltzerstörung, Bodenerosion, fehlenden Investitionen und geringer Produktivität (Duvivier und Fontin 2017). Frauen spielen eine entscheidende Rolle in der Landwirtschaft, werden jedoch unter anderem bei der Entlohnung und im Landerbrecht benachteiligt (Tandon 2012).

Haiti ist von den Auswirkungen des Klimawandels besonders betroffen und nur unzulänglich in der Lage, sich daran anzupassen. Ebenso wie andere kleine Inselstaaten ist der Karibikstaat besonders vom Anstieg des Meeresspiegels sowie extremen Wetterereignissen wie Hurrikans und Sturmfluten bedroht (UNDP 2017; Gallagher et al. 2019). Die städtischen und ländlichen Gebiete sind in puncto Klimawandel mit jeweils spezifischen Herausforderungen konfrontiert. Die geografische Lage der Städte – an der Küste, an Flüssen und Berghängen – erhöht deren Gefährdung aufgrund von überschwemmungen und Erdrutschen, während Haitis ländliche Regionen infolge von Entwaldung und mangelhafter Bodenqualität unzureichend auf die sich verschlechternden klimatischen Bedingungen vorbereitet sind (Rubenstein 2012). In allen Gebieten verschärfen Armut, ein niedriger Grad an Bildung und Alphabetisierung sowie eine ungenügende Infrastruktur die Vulnerabilität der Bevölkerung hinsichtlich der Folgen des Klimawandels (CAF 2014).

In den vergangenen zehn Jahren war Haiti von mehreren schlimmen Katastrophen betroffen. 2010 wurden bei einem Erdbeben 230.000 Menschen getötet, 300.000 verletzt und große Teile der Infrastruktur erheblich beschädigt (Dupuy 2010). Im weiteren Jahresverlauf verbreitete sich im ganzen Land eine massive Cholera- Epidemie, an der bis heute 819.000 Personen erkrankten, von denen zwischen 2010 und 2018 fast 10.000 starben (UN OCHA 2019b). Die Hurrikans Sandy im Jahr 2012 und Matthew 2016 führten zu weiteren schweren Zerstörungen, auch in der Landwirtschaft (FAO 2019c). 2018 verzögerten Dürrezustände im Norden des Landes die Ernte und verschärften die Ernährungsunsicherheit (CARE International 2019). 2019 haben politische Unruhen, eine starke Inflation und anhaltende Trockenheit in mehreren Teilen des Landes die Bedrohungen für die Bevölkerung ausgeweitet (ACF 2019).

Zusammengenommen führten diese Probleme zu einer immensen humanitären Krise, infolge derer schätzungsweise 2,6 Millionen der etwa elf Millionen HaitianerInnen im Jahr 2019 auf humanitäre Hilfe angewiesen sind (CARE International 2019; World Bank 2019a). Dennoch blieb die Situation in der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt, weswegen sie als jene humanitäre Krise im Jahr 2018 gilt, deren Bewältigung am stärksten unterfinanziert war und über die am wenigsten berichtet wurde (CARE International 2019; UN OCHA 2019c).

Hunger und Unterernährung in Haiti

Foto: Lanfranchi/Welthungerhilfe; Jeremie steht mit seiner Tochter vor den Ruinen eines durch Hurrikan Matthew zerstörten Hauses in Grande Anse, Haiti. Ausblenden
HAITIS WELTHUNGER-INDEX-WERTE UND INDIKATORWERTE 2000, 2005, 2010 UND 2019


HAITIS WELTHUNGER-INDEX-WERTE UND INDIKATORWERTE 2000, 2005, 2010 UND 2019

Quelle: die AutorInnen.
Anmerkung: Die Unterernährungswerte beziehen sich auf die Verbreitung von Unterernährung innerhalb der Gesamtbevölkerung des Landes; Wachstumsverzögerung, Auszehrung und Kindersterblichkeit verweisen jeweils auf die Indikatorwerte für Kinder unter fünf Jahren. Die Daten für die WHI-Werte sowie zu Wachstumsverzögerung bei Kindern und Auszehrung bei Kindern stammen aus den Perioden 1998 bis 2002 (2000), 2003 bis 2007 (2005), 2008 bis 2012 (2010) und 2014 bis 2018 (2019). Das Datenmaterial zur Unterernährung wurde in den Zeiträumen 1999 bis 2001 (2000), 2004 bis 2006 (2005), 2009 bis 2011 (2010) und 2016 bis 2018 (2019) erfasst. Die Daten zur Kindersterblichkeit wurden in den Jahren 2000, 2005, 2010 und 2017 (2019) erhoben. Informationen zur Berechnung der WHI-Werte finden sich in Anhang A, jene zu den Quellen, aus denen die Daten zusammengestellt wurden, in Anhang B.

Seit dem Jahr 2000 sind Haitis Fortschritte bei der Reduzierung von Hunger und Unterernährung unbeständig. Während der WHI-Wert zwischen 2000 und 2010 angestiegen ist, ist der Wert 2019 auf 34,7 gefallen und somit der niedrigste Wert seit dem Jahr 2000. Der aktuelle Wert der karibischen Republik liegt jedoch immer noch am oberen Ende der Kategorie ernst auf der WHI-Schweregradskala und ist von allen berücksichtigten Ländern der siebthöchste.

Haitis hoher Wert beruht in erster Linie auf der hohen Unterernährungsrate, der dritthöchsten im diesjährigen Bericht (siehe Anhang C). Die Unterernährungsrate 2016 bis 2018 ist mit 49,3 Prozent fast genauso hoch wie 2009 bis 2011 (49,5 Prozent) und offenbart, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung nicht in der Lage ist, ihren Mindestkalorienbedarf regelmäßig zu decken (Abbildung 4.4). Zu den Hauptursachen für die Ernährungsunsicherheit in Haiti gehören eine hohe Armutsquote und niedrige landwirtschaftliche Produktivität, die wiederum auf häufige Naturkatastrophen, verbreitete Umweltzerstörung und die große Abhängigkeit von Regenfeldbau zurückzuführen ist (USAID 2017).

Die Ernährung vieler HaitianerInnen ist durch schlechte Qualität und geringe Vielfalt gekennzeichnet. Gemäß einer landesweiten Untersuchung fehlten in der Ernährung der Hälfte der Haushalte eisenreiche Nahrungsmittel, und in mindestens jedem vierten Haushalt wurden zu wenig protein- und Vitamin-A-reiche Nahrungsmittel verzehrt (WFP 2016). Eine Kleinstudie im Südwesten Haitis ergab, dass Fisch, Fleisch, Milchprodukte und Eier, die allesamt reich an Proteinen und Mikronährstoffen sind, die am seltensten konsumierten Nahrungsmittelgruppen darstellen. Hülsenfrüchte und Nüsse wurden häufiger gegessen, aber mehr als ein Drittel der Haushalte hatte am Vortag kein Obst und Gemüse verzehrt (Pauzé et al. 2016). Reis, Mais, Weizen und Sorghum sind die am häufigsten konsumierten Getreidesorten. HaitianerInnen verzehren zudem regelmäßig Wurzel- und Knollenfrüchte (hauptsächlich Süßkartoffeln, Maniok und Jamswurzeln), Kochbananen, Bohnen und Erbsen. Der Verzehr von Reis und die Abhängigkeit von Reisimporten haben seit den 1980er-Jahren erheblich zugenommen, nachdem Haiti die Zölle auf importierten Reis drastisch gesenkt hatte (FEWS NET 2018).

Haitis Kindersterblichkeitsrate war in den Jahrzehnten vor dem Erdbeben 2010 stetig zurückgegangen, bevor sie aufgrund der vielen tödlich Verletzten in jenem Jahr dramatisch anstieg (Liu et al. 2012). Im Jahr 2011 nahm sie zwar erneut ab, bleibt jedoch mit 7,2 Prozent nach wie vor die höchste in der westlichen Hemisphäre (UN IGME 2018). Es gibt zwar keine eindeutige Erklärung für den Rückgang der Kindersterblichkeit, doch dürften sich die 2008 und 2010 eingeführten Programme „Soins Obstétricaux Gratuits“ und „Soins Infantiles Gratuits“, die schwangeren Frauen, Neugeborenen und Kindern unter fünf Jahren freien Zugang zu Gesundheitsversorgung bieten, positiv ausgewirkt haben (Amibor 2013).

Die jüngsten Daten zeigen, dass Haitis Wachstumsverzögerungsrate bei Kindern 21,9 Prozent beträgt, was hinsichtlich ihrer Signifikanz für die öffentliche Gesundheit als hoch eingestuft wird, während die Auszehrungsrate bei Kindern von 3,7 Prozent als niedrig gilt (IHE und ICF 2018; de Onis et al. 2019). Die Raten variieren jedoch zwischen den Regionen: Die höchste Wachstumsverzögerungsrate findet sich in der Region Centre (30,1 Prozent) und die höchste Auszehrungsrate in der Metropolregion rund um Port-au-Prince, wo sie bei 5,9 Prozent liegt (Tabelle 4.2). Bemerkenswert ist, dass laut den Erhebungsdaten von 2012 und 2016 bis 2017 die Unterernährungsrate bei Kindern in Haiti niedriger ist als in den Jahren 2005 bis 2006 vor dem Erdbeben 2010. Dieses Ergebnis spiegelt vermutlich die umfangreichen humanitären Interventionen nach dem Erdbeben wider, darunter verschiedene Strategien, die spezifisch auf die Bekämpfung der Unterernährung von Kindern abzielen (Ayoya et al. 2013). Nichtsdestoweniger sind zusätzliche Anstrengungen erforderlich, um die Ernährung und den Ernährungszustand von Kindern zu verbessern. Nur 40 Prozent der Säuglinge unter 6 Monaten werden ausschließlich gestillt und lediglich bei 11 Prozent der Kinder im Alter von 6 bis 23 Monaten entspricht die Ernährung dem Minimalstandard für Ernährungsvielfalt (IHE und ICF 2018). Eine in einem informellen städtischen Siedlungsgebiet in Haiti durchgeführte Studie zeigte, dass Armut, Ernährungsunsicherheit der Haushalte, Arbeitsverpflichtungen, Zeitdruck und begrenzte soziale Unterstützung zu niedrigen Quoten ausschließlichen Stillens führten (Lesorogol et al. 2018).

Schlechte Wasser-, Hygiene- und sanitäre Bedingungen beeinträchtigen nachweislich den Ernährungszustand von Kindern, höchstwahrscheinlich durch negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit und die Fähigkeit, Nährstoffe optimal aufzunehmen (Fink, Günther und Hill 2011; Ngure et al. 2014). Bei haitianischen Kindern mit Zugang zu angemessener Wasser- und Sanitärversorgung ist seltener Wachstumsverzögerung festzustellen als bei jenen mit vergleichbarer Ernährung und Fürsorge, aber mit schlechterem Zugang zu Wasser- und Sanitärversorgung (World Bank 2017a). In Haiti haben nur 31 Prozent der Haushalte Zugang zu adäquaten Sanitäranlagen, während weitere 24 Prozent Zugang zu Einrichtungen haben, die als adäquat gölten, wären sie keine Gemeinschaftsanlagen, und 25 Prozent der Haushalte gänzlich ohne Zugang zu Toiletten sind. 60 Prozent der untersuchten Haushalte verfügen weder über Wasser, Seife noch andere Produkte zum Händewaschen. Mittlerweile haben 74 Prozent der Haushalte Zugang zu geeigneten Trinkwasserquellen (IHE und ICF 2018).

Wie Hunger zurückgedrängt wurde

Foto: Rommel/Welthungerhilfe; Gilbert Jean Batiste und seine Frau Louissaint Saint Asia beim Unkraut jäten im Karottenfeld, Haiti. Ausblenden

Tabelle

WHI-INDIKATORWERTE IN HAITI NACH REGION

Region Wachstums-
verzögerung bei Kindern (%)
Auszehrung bei Kindern (%) Kinder-
sterblichkeit (%)
Aire Métropolitainea 20,2 5,9 8,9
Ouestb 22,5 3,6 11,2
Sud-Est 20,0 2,5 7,6
Nord 20,0 3,6 5,4
Nord-Est 21,0 1,5 7,7
Artibonite 22,4 4,3 8,4
Centre 30,1 2,9 9,0
Sud 22,0 2,9 6,2
Grande Anse 21,6 3,4 5,3
Nord-Ouest 20,3 2,4 5,8
Nippes 17,2 3,6 9,0
Landesweit 21,9 3,7 8,3
Quelle: IHE und ICF (2018).
Anmerkung: Alle Indikatoren gelten für Kinder unter fünf Jahren. Unterernährungswerte auf subnationaler Ebene sind für Haiti derzeit nicht verfügbar. Die Werte zur landesweiten Kindersterblichkeit hier und jene in Abbildung 4.4 unterscheiden sich, da hier die Quelle IHE und ICF (2018) zitiert wird, die subnationale Werte für die zehn Jahre vor der Erhebung im Zeitraum 2016 bis 2017 berücksichtigt und von den AutorInnen zur Berechnung des landesweiten Werts verwendet wurde, während in Abbildung 4.4 UN IGME (2018) zitiert wird, worin sich Werte für einzelne Kalenderjahre finden, die zur Berechnung der WHI-Werte herangezogen wurden.

a Die Metropolregion Aire Métropolitaine besteht aus den städtischen Gebieten von sechs Kommunen im Département Ouest: Port-au-Prince, Tabarre, Cité Soleil, Carrefour, Delmas und Pétion-Ville.

b Die hierin genannten Werte gelten für das Département Ouest außerhalb der Aire Métropolitaine.

Im Folgenden wird erläutert, welche Maßnahmen in Haiti zur Verringerung von Hunger und/oder Unterernährung beigetragen haben. Da sich die Forschung für Haiti hauptsächlich auf ernährungsbezogene Handlungen, wie etwa die Bereitstellung von Nahrungsergänzungsmitteln für Kinder oder die Nahrungsmittelhilfe für Erwachsene, bezieht, ist weitere Forschung unerlässlich, um festzustellen, welche Arten ernährungssensibler Interventionen, wie Agraroder Geldtransfer-Programme, in Haiti wirksam sind und erfolgreich in großem Maßstab umgesetzt werden könnten.

Ein Programm zur Förderung der Gesundheit und Ernährung von Müttern und Kindern, das im Zentralplateau von Haiti umgesetzt wurde, gab monatliche Nahrungsmittelrationen für Kinder aus und führte Gesundheitsförderprogramme für Mütter von Kleinkindern durch. Die Maßnahmen wurden entweder präventiv (für alle Kinder im Alter von 6 bis 23 Monaten) oder therapeutisch (für Kinder im Alter von 6 bis 59 Monaten, die bereits als unterernährt eingestuft worden waren) eingesetzt. Im Rahmen des Präventionsprogramms wurden Kinderernährung und Fürsorgepraktiken thematisiert, während in der Therapiebegleitung Ursachen für Unterernährung, nahrhafte Rezepte, Ernährung bei Krankheit und Hygiene bei der Speisenzubereitung sowie der Handhabung und Lagerung von Lebensmitteln im Mittelpunkt standen. Kinder beider Programmgruppen wiesen niedrigere Wachstumsverzögerungsraten als Kinder einer vergleichbaren Kontrollgruppe auf (Donegan et al. 2010), während der präventive Ansatz sich nachweislich als effektiver bei der Reduzierung von Wachstumsverzögerung, Auszehrung und Untergewicht bei Kindern erwies als der therapeutische (Ruel et al. 2008). Bei einer weiteren Auswertung desselben Programms wurden verschiedene Methoden zur Behandlung von Anämie bei kleinen Kindern im Alter von 9 bis 24 Monaten verglichen. über einen Zeitraum von zwei Monaten erhielt eine Gruppe eine mit Eisen angereicherte Weizen-Soja- Mischung, während die andere Gruppe zur gleichen Ration zusätzlich Mikronährstoffe in Pulverform bekam, die den gewöhnlichen Speisen zugesetzt werden können. In der Gruppe, die das Pulver erhielt, sank die Anämieprävalenz um mehr als die Hälfte (von 54 auf 24 Prozent), wohingegen sie in der anderen Gruppe leicht zunahm. Das zeigt, dass die mit Eisen angereicherte Weizen-Soja-Mischung allein nicht ausreicht, um Blutarmut zu verhindern (Menon et al. 2007).

In den Jahren 2011 und 2012 erhielten Kinder im Alter von sechs bis elf Monaten in einer informellen städtischen Siedlung in Cap-Haïtien drei oder sechs Monate lang täglich eine angereicherte lipidbasierte Nahrungsergänzung. Die lineare Wachstumsrate derjenigen, die dieses Ergänzungsmittel über sechs Monate erhielten, fiel stärker aus als jene der Kontrollgruppe (Iannotti et al. 2013). In einer ähnlichen, 2013 durchgeführten Studie – ebenfalls in Cap Haïtien – wurde ein Schulernährungsprogramm für Kinder im Alter von 3 bis 13 Jahren evaluiert, das sich über einen Zeitraum von 100 Tagen erstreckt hatte. Im Verlauf der Studie erhielten die Schulkinder entweder eine angereicherte Erdnussbutterpaste, einen nicht angereicherten Müsliriegel oder gar kein Ergänzungsmittel. Im Vergleich zu den anderen Gruppen wies jene, der die angereicherte Paste verabreicht worden war, ein geringeres Risiko, an Anämie zu erkranken, einen gestiegenen Body-Mass-Index sowie erhöhte Fettmasse auf – ein positives Ergebnis, denn für gewöhnlich fallen letztere Werte zu gering aus (Iannotti et al. 2015).

Ernährungsunsicherheit und Unterernährung stehen zudem in wechselseitigem Zusammenhang mit einer HIV-Infektion bzw. AIDSErkrankung, da sich beide jeweils negativ bestärken können (Ivers et al. 2010). 2017 waren etwa zwei Prozent der haitianischen Bevölkerung im Alter von 15 bis 49 Jahren von HIV/AIDS betroffen (CDC 2019) und eine Studie an HIV-positiven Erwachsenen in ländlichen Gebieten des Départements Artibonite im Zeitraum 2010/2011 ergab, dass 51 Prozent der Befragten unter starker und weitere 38 Prozent unter mäßiger Ernährungsunsicherheit litten (Rebick et al. 2016). In mehreren Studien wurden Ernährungsmaßnahmen untersucht, die sich an Personen richten, welche mit HIV/AIDS leben. Die Evaluierung eines Programms der Gesundheitshilfsorganisation Partners in Health, das im Zentrum Haitis durchgeführt worden war, erbrachte den Nachweis, dass die Kombination von Nahrungsmittelhilfe mit einer umfassenden Gesundheitsversorgung erfolgreicher die Ernährungssicherheit von HIV-PatientInnen verbesserte, deren Body-Mass-Index stärker erhöhte und zu regelmäßigeren Arztbesuchen führte, als dies bei einer ausschließlichen Gesundheitsversorgung der Fall gewesen wäre (Ivers et al. 2010). Eine Vergleichsstudie, die 2008 bis 2009 in Portau- Prince als Teil eines Programms zur Verhütung der übertragung von HIV von Mutter zu Kind (PMTCT-Programm) durchgeführt wurde, zeigte, dass HIV-exponierte, nicht infizierte, nicht gestillte Kinder im Alter von sechs bis zwölf Monaten mit HIV-positiven Müttern weniger von Wachstumsverzögerung und Untergewicht betroffen waren als eine Kontrollgruppe, nachdem sie über einen Zeitraum von 24 Wochen ein lipidbasiertes Nahrungsergänzungsmittel erhalten und an einem umfangreichen Gesundheitsförderprogramm teilgenommen hatten (Heidkamp et al. 2012).

Die Interventionstypen, die in den genannten Studien bewertet wurden, spiegeln möglicherweise nicht umfassend die Bandbreite von in Haiti durchgeführten Programmen wider. Der Fokus auf Kinderernährungsprogramme in der Literatur, kombiniert mit Haitis außergewöhnlich hoher Unterernährungsrate und mäßigeren Wachstumsverzögerungs- und Auszehrungsraten bei Kindern, legt jedoch nahe, dass Nahrungsmittelproduktion und -zugang in den vergangenen Jahren weniger Beachtung gefunden haben als die Ernährung von Kindern. Die haitianische Regierung und die internationale Gemeinschaft müssen daher die Ressourcen und Interventionen ausweiten, um die anhaltenden Mängel bei der Ernährung und Nährstoffversorgung von Kindern zu reduzieren und gleichzeitig breitere gesellschaftliche Probleme anzugehen, die derzeit die Ernährungssicherheit der gesamten Bevölkerung beeinträchtigen.

Maßnahmen der Politik zur Ernährungssicherung

Foto: Rosenthal/Welthungerhilfe; Der Bauer Bresime Basquet hat sich zum Umpflügen und zur Aussaatvorbereitung seines Ackerlands in Vieille Place, Nord-Ouest, Haiti, einen der beiden Traktoren der Welthungerhilfe samt Fahrer gegen Entgelt ausgeliehen. Dies vereinfacht seine Arbeit enorm. Ausblenden
  • In der haitianischen Verfassung (1987) ist das Grundrecht auf Nahrung festgeschrieben: „Der Staat erkennt das Recht aller BürgerInnen auf menschenwürdiges Wohnen, angemessene Bildung, Ernährung und soziale Sicherheit an“ (GoH 1987).

  • Für die Erhöhung der Ernährungssicherheit ist in erster Linie das Ministerium für Landwirtschaft, natürliche Ressourcen und ländliche Entwicklung zuständig, während das Ministerium für öffentliche Gesundheit und Bevölkerung vorrangig mit ernährungsbezogenen Aufgaben betraut ist (Duvivier und Fontin 2017). Die Abschaffung der Nationalen Kommission für Hunger und Fehlernährung im Jahr 2014 schwächte indes den Stellenwert der Ernährungssicherheit auf der politischen Agenda (SUN 2017a).

  • In Haitis Strategischem Entwicklungsplan (2012–2030; Plan Stratégique de Développement d’Haïti, PSDH) wird anerkannt, dass das Niveau der Ernährungsunsicherheit hoch ist und in mehreren Bereichen Maßnahmen ergriffen werden müssen, um das Problem anzugehen (GoH 2012).

  • Die Nationale Ernährungspolitik (2012; Politique Nationale de Nutrition, PNN) soll den Ernährungs- und Gesundheitszustand der Bevölkerung, insbesondere gefährdeter Gruppen, einschließlich Schwangerer, stillender Frauen und Kindern unter fünf Jahren, verbessern (Duvivier und Fontin 2017).

  • Der Ernährungsstrategieplan (2013–2018) zielt auf die Verbesserung des Gesundheits- und Ernährungszustands der Bevölkerung inklusive gefährdeter Bevölkerungsgruppen ab, indem folgenden Bereichen Vorrang eingeräumt wird: Vorbeugung von Fehlernährung, Bekämpfung ernährungsbedingter Krankheiten, Sicherstellung der Ernährung in Notfällen, Verbesserung der Informationssysteme zur Ernährung, Verbesserung der Koordination zwischen den verschiedenen Sektoren ebenso wie zwischen den und innerhalb der Ministerien und schließlich Durchführung von angewandter Forschung und Ausbildung im Bereich Ernährung (GoH 2013; FNSP 2019).

  • Das 2019 initiierte Ernährungssicherungsprogramm basiert auf einer Zusammenarbeit zwischen der Regierung Haitis und der Europäischen Union. Mit Schwerpunkt in den Regionen Nord- Ouest, Haut Artibonite und Grande Anse zielt es darauf ab, nachhaltig die Ernährung und Ernährungssicherheit der gefährdetsten Gruppen zu verbessern, sowie im Hinblick auf den Umgang mit Krisen deren Widerstandsfähigkeit zu erhöhen und Kapazitäten auszubauen (SUN 2019).

  • 2017 ratifizierte Haiti das Pariser Klimaabkommen und entwickelte eine Nationale Klimastrategie (Politique Nationale de Lutte contre les Changements Climatiques, PNCC). Damit soll die Gefährdung des Karibikstaats durch den Klimawandel durch die Einführung und Umsetzung geeigneter Anpassungs- und Minderungsmaßnahmen verringert werden (NAP-GSP 2018). überdies entwickelte Haiti einen Nationalen Aktionsplan zur Klimawandelanpassung (FAO 2019c).

  • Das grundsätzliche Ziel der Landwirtschaftlichen Entwicklungspolitik (2010–2025) ist es, den Nahrungsmittelbedarf der Bevölkerung nachhaltig zu decken und zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beizutragen. Konkrete langfristige Ziele sind eine geringere Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten und die Deckung des landesweiten Bedarfs an Nahrungsmitteln überwiegend aus heimischer Produktion, die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten in ländlichen Gebieten zur Eindämmung der Landflucht, ein zunehmender Beitrag des Agrarsektors zu den Deviseneinnahmen und die Verringerung von Umweltrisiken (GoH 2011).

Handlungsempfehlungen

Foto: Rommel/Welthungerhilfe; Marktstand in Jean Rabel, Haiti, mit lokalen Produkten: Ingwer, Limonen, Piment, Knoblauch. Ausblenden
  • Um die heimische Nahrungsmittelproduktion zu steigern sowie die Ernährungssicherheit zu erhöhen, sind höhere Investitionen in die Landwirtschaft erforderlich. Ernährung bedarf besonderer Aufmerksamkeit, um sicherzustellen, dass der Agrarsektor nicht nur die Nahrungsmittelmenge erhöht, sondern auch seinen Beitrag zur Deckung des Nährstoffbedarfs der Bevölkerung maximiert. Angesichts der wichtigen Rolle, die Frauen in der haitianischen Landwirtschaft spielen, sind darüber hinaus zusätzliche Anstrengungen nötig, um für Frauen den Zugang zu landwirtschaftlichen Dienstleistungen wie Beratung und Finanzierung zu gewährleisten (Duvivier und Fontin 2017).

  • In Anbetracht der außergewöhnlich starken Entwaldung Haitis und der daraus resultierenden höheren Gefährdung durch überschwemmungen, Erdrutsche und Erosion müssen Wiederaufforstungsprogramme priorisiert werden. Die Wiederaufforstung ist derzeit unterfinanziert, sogar unter den von Geldgebern finanzierten Klimawandelanpassungs- und -minderungsmaßnahmen. Um die gängige Praxis des Baumfällens zur Deckung des Energiebedarfs privater Haushalte zu reduzieren, ist auch ein leichterer Zugang zu alternativen Energiequellen unerlässlich (FAO 2018a; Gallagher et al. 2019).

  • Zudem ist eine Verbesserung der Wasser- und Sanitärversorgung sowie der Hygienebedingungen notwendig. Die derzeitigen diesbezüglichen öffentlichen Investitionen kommen überproportional den wohlhabenden BewohnerInnen der städtischen Gebiete zugute. Eine Umschichtung der Ressourcen zugunsten der in Armut lebenden Bevölkerung in städtischen und ländlichen Gebieten ist angebracht. Da der Privatsektor außerdem einen großen Teil der Versorgungsleistungen erbringt, ist eine verstärkte und bessere Regulierung privater Einrichtungen notwendig (World Bank 2017a).

  • Weitere Maßnahmen sind erforderlich, um die Still- sowie die Ernährungspraxis bei Säuglingen und Kleinkindern zu verbessern. So mangelt es in Haiti etwa an der rechtsverbindlichen Umsetzung des Internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten (SUN 2018a). Als notwendig erweist sich ferner eine bessere Aufklärung der Bevölkerung, um häufige Missverständnisse in Bezug auf Stillen und Beikostfütterung auszuräumen (Laterra et al. 2014). Die Gewährleistung einer Kinderbetreuung in der Nähe der Arbeitsplätze von Müttern könnte zu einer höheren Stillrate beitragen, während ökonomische Hilfsleistungen wie beispielsweise Geldtransfers die Notwendigkeit für Mütter reduzieren könnte, während des empfohlenen sechsmonatigen Zeitraums für ausschließliches Stillen außer Haus zu arbeiten (Lesorogol et al. 2018).

  • Während beträchtliche internationale Mittel in klimaspezifische oder klimarelevante Projekte investiert wurden, blieben mehrere von der haitianischen Regierung priorisierte Bereiche unter- oder gar nicht finanziert, unter anderem Küstenresilienz und Küstenzonenmanagement, Anpassung der Landwirtschaft, Stärkung der Institutionen und Kapazitätenaufbau. Um knappe Ressourcen bestmöglich einzusetzen, sollten Regierung und internationale Geldgeber klimawandelbezogene Maßnahmen in Entwicklungsstrategien und Aktivitäten zur Katastrophenvorsorge integrieren (Gallagher et al. 2019). Investitionen sind dringend erforderlich, um die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung zu stärken und sie dabei zu unterstützen, ihre Existenzgrundlagen anzupassen, um Extremwetterereignissen standzuhalten.

 

Fußnoten

  1. Die hierin genannten Armutsquoten beziehen sich auf die internationale Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag und Kopf (Kaufkraftparität 2011).  
  2. Nominales Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in US-Dollar.  
  3. Im Notre Dame Global Adaptation Initiative Index, der die Vulnerabilität und die Vorsorgekapazitäten im Hinblick auf den Klimawandel berücksichtigt, rangiert Haiti auf Platz 173 von 181 Ländern (ND-GAIN 2019).  
  4. Der hohe Wert für 2010 ist zum Teil auf die ungewöhnlich hohe Kindersterblichkeitsrate in diesem Jahr zurückzuführen, die vor allem dem Erdbeben 2010 geschuldet ist (Liu et al. 2012).  
  5. Es gibt 22 Länder mit einer höheren Kindersterblichkeitsrate in diesem Bericht, 55 Länder mit einer höheren Wachstumsverzögerungsrate und 71 Länder mit einer höheren Auszehrungsrate (siehe Anhang C).  
  6. In diesem Kapital werden Studien berücksichtigt, in denen die Wirkung einer Maßnahme auf die Ernährung oder Nährstoffversorgung im Vergleich mit einer geeigneten Kontrollgruppe untersucht wurde.