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Wie die Finanzkrise den Hunger verschärft


 
   
Von Agnes Quisumbing & Rebecca Fertziger
Oktober 2009
Foto: Jens Grossmann/Welthungerhilfe, Simbabwe, Nkayi, Region Matabeleland, 2009; Ausblenden

Der durch die Rezession ausgelöste Anstieg des Hungers ist das Symptom eines tiefer liegenden Problems: der Ausgrenzung und Entmachtung der ärmsten.

Foto: Thomas Lohnes/Welthungerhilfe, Ecuador, Millenniumsdorf San Andres, 2006; Ausblenden

Anmerkung: Dieses Kapitel gibt Ansichten des Verfassers wieder, die nicht notwendigerweise den Ansichten von IFPRI, Welthungerhilfe oder Concern Worldwide entsprechen.

 
Fara
Fara,
Südliches Madagaskar

Wir leben am Abgrund. Wir verstehen nicht, was in Tana* passiert. Den Politikern dort ist es egal, was mit der Küstenbevölkerung geschieht. Viele Lebensmittel sind so teuer geworden, dass wir nur sehr kleine Mengen davon essen, sogar Fisch. Wir essen sehr einfache Sachen, Reis und öfter Cassava.

* Antananarivo, die Hauptstadt

Die Weltgemeinschaft ist zurzeit mit zwei Krisen konfrontiert: der Nahrungsmittelpreiskrise und der Finanzkrise. Beide Krisen haben maßgeblichen Einfluss auf Ernährungssicherheit und auf finanzielle und wirtschaftliche sowie politische Stabilität. Da die Entwicklungsländer heute aufgrund von internationalen Handelbeziehungen, Investitionsströmen und Rücküberweisungen stärker in die Weltmärkte integriert sind als in der Vergangenheit, werden die jüngsten Entwicklungen sie härter treffen als vergangene Krisen.

Die Armen und Hungernden werden die Auswirkungen stärker spüren, da viele von ihnen heute enger mit der Gesamtwirtschaft verzahnt sind. Das Internationale Forschungsinstitut für Ernährungspolitik (IFPRI) geht davon aus, dass infolge der Rezession und des damit verbundenen Investitionsrückgangs in der Landwirtschaft im Jahr 2020 16 Millionen Kinder zusätzlich von Unterernährung betroffen sein könnten (von Braun 2008). Bei Kindern können schon Phasen zeitweiliger Unterernährung schwerwiegende Folgen haben: Unterernährung im Kindesalter führt zu einer Beeinträchtigung der physischen und kognitiven Entwicklung und hat Konsequenzen für das Einkommen im Erwachsenenalter (Hoddinott et al. 2008). Die Krisen werden daher noch lange, nachdem die Nahrungsmittelpreise wieder gesunken sind und die Welt sich von der Finanzkrise erholt hat, negative Auswirkungen auf das Leben und die wirtschaftliche Perspektive der Menschen haben.

Es gibt verschiedene Kanäle, über die die Finanzkrise und der daraus folgende Wirtschaftsabschwung in den Entwicklungsländern und Übergangsökonomien ankommen:

  • Rückgang des Welthandelsvolumens und veränderte Terms of Trade. Der Rückgang der globalen Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen hat den Lebensmittelexporteuren weltweit erheblich geschadet. Der Exportrückgang führte außerdem zu einer Verringerung der Staatseinkünfte, die in Entwicklungsländern häufig zu einem hohen Anteil aus Exporteinnahmen erzielt werden. Vom Warenexport abhängige Länder mussten zusätzliche Rückschläge aufgrund der fallenden Terms of Trade (Rückgang der Exportpreise im Verhältnis zu den Importpreisen) hinnehmen; die Folge sind eingeschränkte Importmöglichkeiten.
  • Rückgang der ausländischen Direkt- und Portfolioinvestitionen. Rückgänge ausländischer Investitionen führen zu einer weiteren Einschränkung der in den Entwicklungsländern ohnehin knappen finanziellen und technischen Mittel. Große Projekte werden auf Eis gelegt oder eingestellt, die Arbeitslosigkeit steigt und Menschen in armen Haushalten verlieren ihre Einkommensquelle.
  • Rückgang an Rücküberweisungen. Eine Abnahme der Rücküberweisungen führt in Entwicklungsländern zu einer direkten Verringerung des Haushaltseinkommens. Familien können nicht mehr in die Aus- und Weiterbildung ihrer Kinder investieren, und der Ausfall an Einkommen erschwert den Umgang mit den gestiegenen Nahrungsmittelpreisen und der Rezession.
  • Wachsende Kluft zwischen Mittelbedarf und ausländischer Unterstützung. Auch wenn einige Regierungen ihre Entwicklungshilfegelder aufgestockt haben, wird der Gesamtzuwachs nicht ausreichen, um die infolge der globalen Krisen wachsenden Bedürfnisse der armen Bevölkerung zu befriedigen. Dort, wo ausländische Finanzhilfen gekürzt werden, werden ohnehin schon knappe Budgets für Gesundheitsfürsorge, Bildung und soziale Sicherung noch stärker belastet.

Die genannten Faktoren sind für die einzelnen Länder von unterschiedlicher Bedeutung, und sie haben je nach Land unterschiedlich starke Auswirkungen. Sinkende Terms of Trade beispielsweise treffen exportorientierte Rohstoffnationen härter; das Ausbleiben von Rücküberweisungen dagegen hat etwa in lateinamerikanischen Ländern schwerere Konsequenzen. Der Dominoeffekt von Weltfinanzkrise und Wirtschaftsabschwung (wie die Übertragung der Finanzkrise auf andere Wirtschaftssektoren und Einbrüche bei den Regierungseinnahmen) verstärkt die negativen Auswirkungen für die Armen und Hungernden.

Der Internationale Währungsfonds (IMF) hat die makroökonomische Anfälligkeit einkommensschwacher Länder gegenüber der Finanzkrise unter vier Aspekten untersucht: Handel, ausländische Direktinvestitionen, Entwicklungshilfegelder und Rücküberweisungen (IMF 2009). Je nachdem, wie stark die Länder von der Finanzkrise und dem Wirtschaftsabschwung betroffen sind, wurden sie in Kategorien hoher, mittlerer oder geringer Gefährdung eingestuft.

Die globale Rezession verschlimmert die Situation der Armen und Hungernden

Foto: Philip Flaemig/Welthungerhilfe, Mali, 2008; Ausblenden
Hojieva
Hojieva Jumagul,
Distrikt Kuhistoni Mastcho, Tadschikistan

Ich habe einen Sohn, der in Russland als Migrant lebt. Er hat mir in den letzten zwei Jahren geholfen. Er hat regelmäßig Geld geschickt, und mit diesem Geld haben wir unser Haus repariert, eine Satellitenschüssel gekauft und die Hochzeit meiner Tochter ausgerichtet. Seit sechs Monaten hat er nichts mehr geschickt und sagt, er hat keinen Job dort. Nachbarn sagen, dass viele Leute Angst davor haben, jetzt nach Russland zu gehen. Sie haben Angst, dass sie keinen Job finden können.

Wie in der Tabelle auf Seite 18 zu erkennen ist, zählen die Länder mit dem höchsten Hungerniveau gleichzeitig zu den Ländern, die durch den globalen Abschwung am stärksten gefährdet sind. Zwei Länder, in denen die Hungersituation alarmierend ist, Burundi und die Demokratische Republik Kongo, sind auch durch die weltweite Rezession hoch gefährdet. Während der Rückgang von Entwicklungshilfegeldern die größte Gefährdung für Burundi darstellt, ist die Demokratische Republik Kongo am stärksten durch sinkende Erdöleinnahmen bedroht. Auch die Mehrheit der Länder mit einem WHI-Wert zwischen 20,0 und 29,9 (Hungersituation sehr ernst) ist durch die Rezession einer starken bis mittleren Gefährdung ausgesetzt. Die Analyse zeigt ferner, in welchen Ländern Maßnahmen ergriffen werden müssen, damit einer weiteren Verschärfung des Hungers vorgebeugt werden kann. Übergangsökonomien mit einem niedrigen WHI- Wert 2009 (das heißt einer relativ günstigen Hungersituation) – Albanien, Kroatien, Kirgisistan und Moldawien – sind sehr anfällig gegenüber den Auswirkungen von Finanzkrise und Rezession und müssten Maßnahmen ergreifen, um das erreichte Niveau an Ernährungssicherheit zu halten.

Auf mikroökonomischer Ebene bewirkt die Finanzkrise einen Rückgang der Nachfrage nach Nahrungsmitteln, was dazu geführt hat, dass die Nahrungsmittelpreise gefallen sind. Im Vergleich mit dem Preisniveau um die Jahrtausendwende sind die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel jedoch nach wie vor hoch, und gerade in Entwicklungsländern sind die Preise bisher kaum wieder gefallen. Die Finanzkrise und der globale Abschwung verschärfen die Lebenssituation der Armen und Hungernden weiter: Ungelernte Arbeitskräfte müssen Lohnkürzungen hinnehmen, Arbeitsplätze gehen verloren und Rücküberweisungen verringern sich.

Viele der Kleinbauern, die die steigenden Agrarpreise zu Investitionen in landwirtschaftliche Technologien genutzt haben, können nun ihre Schulden nicht mehr abbezahlen. Auch die Mittel zur Unterstützung der am stärksten gefährdeten Teile der Bevölkerung, wie internationale Hilfsgelder und soziale Transferleistungen der Regierungen, nehmen ab.

Obwohl es die Armen und Hungernden insgesamt sind, die am stärksten unter der Nahrungsmittelpreiskrise und der Finanzkrise zu leiden haben, sind die Auswirkungen auf Haushaltsebene sehr unterschiedlich. Art und Ausmaß der Betroffenheit hängen von den konkreten Merkmalen des Haushalts ab, etwa davon, ob es sich um einen Haushalt handelt, der einen Nahrungsmittelüberschuss produziert oder der Nahrungsmittel zukaufen muss; sie hängen davon ab, wie hoch der Anteil des Haushaltseinkommens ist, der für Nahrungsmittel aufgewendet wird, welcher Zugang zu Waren und Dienstleistungen besteht und wie hoch die Gefährdung durch andere, nicht Nahrungsmittelpreis bezogene Faktoren ist (Benson et al. 2008). Von den direkten Folgen der Turbulenzen auf den Finanzmärkten und dem Rückgang der Exporteinnahmen und Rücküberweisungen werden vermutlich die arme Stadtbevölkerung und gering Qualifizierte im verarbeitenden Gewerbe am stärksten betroffen sein. Indirekt wird aber auch die arme Landbevölkerung unter den Konsequenzen zu leiden haben, da in vielen Entwicklungsländern enge Verbindungen zwischen Land und Stadt und zwischen dem landwirtschaftlichen und nicht landwirtschaftlichen Sektor bestehen (Heady 2009). Von der Nahrungsmittelpreiskrise und der Finanzkrise unterschiedlich schwer betroffen sind auch die einzelnen Mitglieder der Haushalte. Krisen haben für Frauen meist schwerwiegendere und langfristigere Folgen, da es ihnen häufiger an Besitz und Einkünften mangelt, die ihnen bei der Bewältigung der Situation helfen könnten (Quisumbing et al. 2008).

Schweregrad der Hungersituation nach 2009 WHI und Anfälligkeit gegenüber der globalen Rezession Quelle: Daten zur Gefährdungsanalyse stammen vom IMF (2009)
Anmerkung: Die Daten über den Anteil der Unterernährten für den WHI 2009 stammen aus den Jahren 2002–2005, die Daten zur Kindersterblichkeit aus dem Jahr 2007 und die Daten zur Unterernährung bei Kindern vom letzten Jahr im Zeitraum 2002–2007, für das Daten verfügbar waren. In der Tabelle sind nur Länder aufgeführt, für die sowohl WHI-Daten 2009 als auch die Angaben des IMF über den Gefährdungsgrad vorliegen.

Fazit

Politische Maßnahmen, die darauf abzielen, die Auswirkungen der Finanz- und der Nahrungsmittelpreiskrise abzufedern, müssen die individuelle Gefährdungslage von Ländern und die unterschiedliche Betroffenheit bestimmter Bevölkerungsteile innerhalb der Länder berücksichtigen. Soziale Sicherungsmaßnahmen sollten folglich so gestaltet sein, dass sie tatsächlich diejenigen erreichen, die am schwersten betroffen sind; gleichzeitig müssen sie den Grundstein für eine nachhaltige Verbesserung legen und negativen Folgen in der Zukunft vorbeugen. Erfolgreiche Ernährungsinterventionen, wie Schulspeisungen und Programme zur Verbesserung der frühkindlichen Ernährung sowie Initiativen zur Verbesserung der Ernährung von schwangeren Frauen und Müttern, sollten gefördert und weltweit umgesetzt werden.

Fußnoten

  1. Für Länder mit hoher Gefährdung wird ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um mindestens 2,5 Prozent sowie ein Rückgang der Devisenreserven, der 0,5 Importmonaten entspricht, erwartet. Für Länder mit mittlerer Gefährdung wird ein Rückgang von 0,5–2,5 des BIP und ein Rückgang der Reserven, der weniger als 0,5 Importmonaten entspricht, erwartet. Für Länder mit geringer Gefährdung wird mit einem Rückgang des BIP um weniger als 0,5 Prozent gerechnet. Länder mit hoher Gefährdung verfügen über Devisenreserven, die von der Höhe ihrer Kapitalmenge weniger als drei Importmonaten im Jahr 2008 entsprachen; im schlimmsten Fall könnten sie einen weiteren Kapitalverlust im Wert von mehr als 0,5 Importmonaten erleiden. Länder mit mittlerer Gefährdung haben gegenwärtig entweder Reserven, die höher sind als die Kapitalerträge aus drei Importmonaten, und würden im schlimmsten Falle einen weiteren Rückgang, der mehr als 0,5 Importmonaten entspräche, erleiden oder sie verfügen derzeit über Reserven, die weniger als drei Importmonaten entsprechen, und es wird erwartet, dass sie im schlimmsten Fall einen weiteren Rückgang erleiden, der weniger als 0,5 Importmonaten entspricht. Länder mit geringer allgemeiner Gefährdung haben derzeit Reserven, die mehr als drei Importmonaten entsprechen, und es wird erwartet, dass sie im schlimmsten Fall einen Rückgang erleiden, der weniger als 0,5 Importmonaten entspricht.