Lösungsansätze für Verborgenen Hunger
„Verborgener Hunger“ durch Mikronährstoffmangel erzeugt nicht das Hungergefühl, das wir kennen. Man spürt ihn vielleicht nicht im Bauch, doch er trifft den Kern unserer Gesundheit und Vitalität.
- Kul C. Gautam, früherer Stellvertretender Direktor von UNICEF
Box 3.1
Definitionen
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Hunger: Qual, die von einem Mangel an Nahrung herrührt
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Fehlernährung: ein physiologisch abnormer Zustand, der durch eine falsche Menge und Art von Nahrung verursacht wird; dies schließt Unterernährung und Überernährung ein
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Unterernährung (undernutrition): Unterversorgung mit Nahrungsenergie, Protein- und/oder Mikronährstoffmangel
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Mikronährstoffmangel (auch als verborgener Hunger bezeichnet): eine Form der Unterernährung, bei der zu wenige Vitamine und Mineralstoffe aufgenommen und verarbeitet werden, um Gesundheit und Entwicklung bei Kindern sowie normale körperliche und mentale Funktionen bei Erwachsenen zu gewährleisten. Ursachen sind unter anderem schlechte Ernährung, Krankheit oder ein in der Schwangerschaft oder Stillphase nicht erfüllter, gesteigerter Bedarf an Mikronährstoffen
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Unterernährung (undernourishment): Chronisches Kaloriendefizit durch Aufnahme von weniger als 1.800 kcal pro Tag, dem Mindestbedarf der meisten Menschen für ein gesundes und aktives Leben
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Überernährung: übermäßige Aufnahme von Energie oder Mikronährstoffen
Verborgener Hunger, auch Mikronährstoffmangel genannt, betrifft über zwei Milliarden Menschen oder jeden dritten Menschen weltweit (FAO 2013). Er kann verheerende Folgen haben, darunter geistige Beeinträchtigungen, schlechte Gesundheit sowie geringe Produktivität, und sogar infolge von Krankheiten tödlich sein. Vor allem für die Gesundheit und das Überleben von Kindern in den ersten 1.000 Tagen ihres Lebens von der Empfängnis bis zum zweiten Geburtstag sind diese negativen Auswirkungen schwerwiegend und haben ernste Konsequenzen für ihre körperliche und kognitive Entwicklung. Selbst geringe oder minderschwere Mängel können Wohlergehen und Entwicklung eines Menschen beeinträchtigen. Verborgener Hunger schadet nicht nur der Gesundheit der Menschen, sondern kann darüber hinaus auch die sozioökonomische Entwicklung vor allem in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen hemmen.
Eine andere Art von Hunger
Verborgener Hunger ist eine Art der Unterernährung, bei der zu wenig Vitamine und Mineralstoffe (wie Zink, Jod und Eisen) aufgenommen und resorbiert werden, um eine stabile Gesundheit und Entwicklung zu gewährleisten (Box 3.1). Zu den Faktoren, die zu einem Mikronährstoffmangel führen, zählen unter anderem schlechte Ernährung, gesteigerter Bedarf an Mikronährstoffen in bestimmten Lebensabschnitten wie Schwangerschaft und Stillzeit sowie Gesundheitsprobleme durch Krankheiten, Infektionen oder Parasiten.
Während manche klinischen Symptome verborgenen Hungers, wie zum Beispiel Nachtblindheit als Folge von Vitamin-A-Mangel oder ein Kropf durch unzureichende Jodaufnahme, bei gravierendem Mangelzustand sichtbar werden, beeinträchtigen weniger offensichtliche, „unsichtbare“ Auswirkungen die Gesundheit und Entwicklung weitaus größerer Bevölkerungsanteile. Deshalb wird Mikronährstoffmangel häufig als verborgener Hunger bezeichnet.
Verborgener Hunger weltweit
Über zwei Milliarden Menschen leiden weltweit an verborgenem Hunger, das sind mehr als doppelt so viele Menschen wie die rund 805 Millionen, denen nicht genügend Kalorien zur Verfügung stehen (FAO, IFAD und WFP 2014). In großen Teilen Afrikas südlich der Sahara und des südasiatischen Subkontinents ist der verborgene Hunger besonders weitverbreitet (Abbildung 3.1). In Lateinamerika und der Karibik dagegen sind die Werte relativ gering. In dieser Region basiert die Ernährung seltener nur auf einzelnen Grundnahrungsmitteln, und umfassende Mikronährstoffinterventionen, Programme zur Ernährungsbildung und grundlegende Gesundheitsdienste zeigen ihre Wirkung (Weisstaub und Araya 2008). Obwohl Entwicklungsländer besonders stark von verborgenem Hunger betroffen sind, sind Mikronährstoffdefizite, allen voran Eisen- und Jodmangel, auch in den Industrieländern weitverbreitet (Abbildung 3.1 und 3.2).
Die weltweite Belastung durch Fehlernährung wird zunehmend komplex. Die Bevölkerung der Entwicklungsländer ernährt sich immer weniger von herkömmlichen, kaum industriell verarbeiteten Lebensmitteln, sondern nehmen immer mehr stark verarbeitete, energiereiche, dabei aber mikronährstoffarme Nahrungsmittel und Getränke zu sich. Dies führt verstärkt zu Fettleibigkeit und ernährungsbedingten chronischen Erkrankungen. Infolge dieser veränderten Ernährungsmuster droht vielen Entwicklungsländern ein Phänomen, das man als Dreifachbelastung der Fehlernährung bezeichnet: Unterernährung, Mikronährstoffmangel und Fettsucht (Pinstrup-Andersen 2007). In städtisch geprägten Ländern mit höheren Einkommen kann verborgener Hunger mit Übergewicht/ Fettsucht einhergehen, verursacht durch übermäßige Aufnahme von Nahrungsenergie aus Fetten und Kohlenhydraten (Guralnik et al. 2004). Mag es auch paradox erscheinen, so kann ein übergewichtiges Kind durchaus an verborgenem Hunger leiden.
Mikronährstoffmangel ist für geschätzte 1,1 Millionen der jährlich 3,1 Millionen durch Unterernährung verursachten Todesfälle bei Kindern verantwortlich (Black et al. 2013; Black et al. 2008). Ein Mangel an Vitamin A und Zink schwächt das Immunsystem und beeinträchtigt so die Gesundheit und die Überlebenschancen von Kindern. Zinkmangel beeinträchtigt das Wachstum von Kindern und kann zu Wachstumsverzögerungen (engl.: „stunting“) führen. Jod- und Eisendefizite behindern die optimale physische und intellektuelle Entwicklung von Kindern (Allen 2001).
Frauen und Kinder haben einen höheren Bedarf an Mikronährstoffen (Darnton-Hill et al. 2005). Der Ernährungszustand von Frauen zum Zeitpunkt der Empfängnis und während der Schwangerschaft hat langfristige Auswirkungen auf Wachstum und Entwicklung des ungeborenen Kindes.
Jedes Jahr werden nahezu 18 Millionen Babys mit Hirnschäden durch Jodmangel geboren. Schwere Anämie trägt jedes Jahr zum Tod von 50.000 Frauen im Kindbett bei. Außerdem zehrt Eisenmangel an den Kräften von 40 Prozent aller Frauen in den Entwicklungsländern (UNSCN 2005; Micronutrient Initiative 2014). Maßnahmen zur Bekämpfung verborgenen Hungers und zur Verbesserung der Ernährungssituation setzen meist bei Frauen, Säuglingen und Kleinkindern an, da sie sich durch Verbesserungen von Gesundheit, Ernährungszustand und kognitiver Entwicklung im Laufe des Lebens besonders auszahlen (Hoddinott et al. 2013).
Besonders weitverbreitet ist Mikronährstoffmangel in allen Altersgruppen durch unzureichende Versorgung mit Jod, Eisen und Zink (Tabelle 3.1, S. 26). Vitamin-A-Mangel ist zwar mit 190 Millionen gefährdeten Kindern im Alter von bis zu fünf Jahren und 19 Millionen Schwangeren seltener, jedoch aus der Perspektive des öffentlichen Gesundheitswesens nicht weniger bedeutend (WHO 2009). Auch andere lebenswichtige Mikronährstoffe, wie Kalzium, Vitamin D und Vitamine der B-Gruppe, wie Folsäure, werden oftmals nicht in ausreichender Menge aufgenommen (Allen et al. 2006).
Obwohl Schwangere, Kinder und Jugendliche als die am stärksten von verborgenem Hunger betroffenen Bevölkerungsgruppen gelten, beeinträchtigt er die Gesundheit der Menschen in allen Lebensphasen (Abbildung 3.3, S. 26).
Es ist nicht einfach, das Ausmaß der Defizite an den meisten Mikronährstoffen zu dokumentieren. Für zahlreiche Mikronährstoffdefizite liegen unzureichende Daten über die Verbreitung vor. Außerdem herrschen unter Wissenschaftlern unterschiedliche Meinungen über die zu empfehlende Tagesdosis für einige der 19 Mikronährstoffe, die unmittelbare Auswirkungen auf die körperliche und geistige Entwicklung sowie das Immunsystem haben (Biesalski 2013). Auch die Beziehung zwischen der Aufnahme und der Verwertung im Stoffwechsel ist bei vielen Mikronährstoffen noch nicht hinreichend geklärt.
Die Beschaffung präziser Daten stellt eine große Herausforderung dar. Zeitverzögerungen, Lücken in den Daten und mangelnde Aufschlüsselung sind häufig vorkommende Probleme. Proxy-Indikatoren für verbreitete Ausprägungen des verborgenen Hungers sind oft unvollkommen. So wird zum Beispiel die Anämie als Indikator für Eisenmangel verwendet, obwohl nur die Hälfte aller Fälle von Anämie durch Eisenmangel verursacht wird (de Benoist et al. 2008). Typische körperliche Anzeichen für Hunger, wie Wachstumsverzögerungen (geringe Körpergröße für das jeweilige Alter; engl.: „stunting“) oder Auszehrung (geringes Körpergewicht für die jeweilige Körpergröße; engl.: „wasting“) und Untergewicht, mögen den Mikronährstoffmangel betroffener Bevölkerungsgruppen widerspiegeln, sind aber als Behelfsindikatoren ungeeignet, da Mikronährstoffdefizite selten die einzigen beteiligten Faktoren sind. Genaue Messungen durch Blutproben oder spezifische Diagnosen wie Nachtblindheit, Beriberi und Skorbut liefern verlässlichere Werte für fortgeschrittene Stadien des jeweiligen Mangels. Für zahlreiche Mikronährstoffe wurden bisher noch keine Biomarker identifiziert, daher gibt es noch keine Daten zur Verbreitung der entsprechenden Defizite. Solange diese Datenlücken bestehen, wird es schwierig bleiben, das gesamte Ausmaß des verborgenen Hungers zu beschreiben.
Ursachen von Vitamin- und Mineralstoffdefiziten
Box 3.2
Die Folgen der Grünen Revolution
öffentliche Forschungs- und Entwicklungsvorhaben haben viele Jahre lang einen Schwerpunkt auf die Steigerung der Produktion von Grundnahrungsmitteln zur Reduzierung von Unterernährung gelegt. Allerdings könnte die Grüne Revolution zwischen den 1970er- und Mitte der 1990er-Jahre durch die verstärkte Produktion hochertragreicher Getreidesorten die Ernährungslage gleichzeitig verbessert und verschlechtert haben. Die Steigerung des Gesamtertrags an Grundnahrungsmitteln sorgte für einen Preisverfall bei stärkehaltigen Grundnahrungsmitteln im Verhältnis zu mikronährstoffreicheren Lebensmitteln wie Gemüse und Hülsenfrüchten. Während Getreide zur Grundversorgung kostengünstiger wurde, stiegen in manchen Ländern die Preise für mikronährstoffreiche Lebensmittel und machten diese damit für arme Menschen weniger attraktiv (Bouis 2000, Kennedy und Bouis 1993).
Unzureichende Ernährung ist eine der häufigsten Ursachen des verborgenen Hungers. Eine Ernährung, die hauptsächlich auf Grundnahrungsmitteln wie Mais, Weizen, Reis und Maniok basiert, welche zwar einen großen Anteil an Energie, aber relativ geringe Mengen essenzieller Vitamine und Mineralstoffe liefern, führt häufig zu verborgenem Hunger. Was die Menschen essen, hängt von zahlreichen Faktoren ab, darunter relative Preise (Box 3.2) und Vorlieben, die von der jeweiligen Kultur, dem Gruppendruck sowie von geografischen, umwelt- und jahreszeitlichen Faktoren geprägt sind. Betroffene von verborgenem Hunger sind sich der Bedeutung einer ausgewogenen, nährstoffreichen Ernährung oft nicht bewusst. Vor allem in Entwicklungsländern haben sie häufig weder die Mittel noch den Zugang zu einem breiten Spektrum an nährstoffreichen Lebensmitteln, wie zum Beispiel zu Nahrungsmitteln tierischen Ursprungs (Fleisch, Eier, Fisch und Milchprodukte), Obst und Gemüse. Wo keine Katastrophensituation besteht, ist Armut der Hauptfaktor, der den Zugang zu angemessener, nährstoffreicher Ernährung erschwert. Bei steigenden Lebensmittelpreisen tendieren die Menschen dazu, weiterhin Grundnahrungsmittel zu essen und weniger andere Lebensmittel mit höherem Mikronährstoffgehalt zu konsumieren (Bouis, Eozenou und Rahman 2011).
Auch die eingeschränkte Resorption oder Verwertung von Nährstoffen kann zu einem Mikronährstoffdefizit führen. Die Resorption kann durch Infektionen oder Parasitenbefall gestört werden, die auch zum Verlust von oder größeren Bedarf an zahlreichen Mikronährstoffen führen können. Infektionen und Parasiten können sich in ungesunden Umgebungen mit unzureichender Wasser- und Sanitärversorgung und schlechten Hygienebedingungen ungehindert ausbreiten. Unhygienische Handhabung von Lebensmitteln sowie von Säuglings- und Kleinkindnahrung können Nährstoffverluste noch zusätzlich verschärfen.
Auch die Zusammensetzung der Ernährung kann die Resorption beeinträchtigen. Fettlösliche Vitamine, wie zum Beispiel Vitamin A, können am besten vom Körper aufgenommen werden, wenn sie zusammen mit fetthaltigen Nahrungsmitteln konsumiert werden, während Verbindungen wie Tannin oder Phytate die Eisenaufnahme hemmen können. Auch Alkoholkonsum kann die Aufnahme von Mikronährstoffen behindern.
Der wirtschaftliche Schaden
Abbildung 3.4 Kreislauf von verborgenem Hunger, Armut und stagnierender Entwicklung
Ein Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen belastet die betroffenen Menschen und Gesellschaften schwer, sowohl bezüglich der Gesundheitskosten als auch der negativen Auswirkungen durch verlorenes Human-kapital und verringerte wirtschaftliche Produktivität. Verborgener Hunger beeinträchtigt das körperliche Wachstum und die Lernfähigkeit, schränkt die Produktivität ein und verfestigt schließlich den Kreislauf der Armut (Abbildung 3.4, S. 28). Länder, in denen große Bevölkerungsanteile unter Vitamin- und Mineralstoffmangel leiden, können ihr wirtschaftliches Potenzial nicht entfalten (Stein 2013; Stein und Qaim 2007). Arme Menschen leiden unverhältnismäßig oft unter Mikronährstoffdefiziten und müssen zudem langfristige negative Folgen des verborgenen Hungers auf ihre sozio-ökonomische Entwicklung tragen (Darnton-Hill et al. 2005).
Die wirtschaftlichen Kosten jeglicher Art von Mikronährstoffmangel können beträchtliche Ausmaße annehmen und reduzieren das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der meisten Entwicklungsländer um 0,7 bis 2,0 Prozent (Micronutrient Initiative und UNICEF 2004). So büßen Schätzungen zufolge zum Beispiel Indien 1,0 Prozent und Afghanistan 2,3 Prozent ihres BIP ein. Weltweite Verluste an wirtschaftlicher Produktivität durch Makronährstoff- und Mikronährstoffmangel erreichen mehr als zwei bis drei Prozent des BIP (Weltbank 2006) und verursachen einen weltweiten Schaden von 1,4 bis 2,1 Billionen US-Dollar pro Jahr (FAO 2013).
Andererseits können Investitionen in die Ernährung hohe Gewinne bringen. Ergebnisse von Expertenpanels des Kopenhagener Konsenses zeigen übereinstimmend, dass Ernährungsinterventionen ausgesprochen kosteneffizient sind (Copenhagen Consensus 2004, 2008, 2012). Im Jahr 2008 stufte das Panel Nahrungsergänzung für Kinder (Vitamin A und Zink), Nahrungsmittelanreicherung mit Eisen und Jod sowie Biofortifizierung unter den fünf besten Investitionen in wirtschaftliche Entwicklung ein. So legen zum Beispiel Schätzungen nahe, dass jeder USDollar, der für Salzjodierung ausgegeben wird, einen Gegenwert von bis zu 81 US-Dollar einbringt (Hoddinott, Rosegrant und Torero 2012).
Lösungsansätze für verborgenen Hunger
Mehr Ernährungsvielfalt
Die Steigerung der Ernährungsvielfalt zählt zu den effektivsten Methoden zur nachhaltigen Vorbeugung von verborgenem Hunger (Thompson und Amoroso 2010). Ernährungsvielfalt hat Einfluss auf den Ernährungszustand von Kindern, unabhängig von sozio-ökonomischen Faktoren (Arimond und Ruel 2004). Langfristig gewährleistet Ernährungsvielfalt eine gesunde Ernährung mit einer ausgewogenen und ausreichenden Kombination von Makronährstoffen (Kohlenhydraten, Fetten und Proteinen), lebenswichtigen Mikronährstoffen und anderen Nahrungssubstanzen, wie zum Beispiel Ballaststoffen. Bei den meisten Menschen gewährleistet eine Vielfalt von Getreide, Hülsenfrüchten, Obst, Gemüse und tierischen Lebensmitteln eine ausreichende Ernährung, wobei manche Gruppen, wie beispielsweise schwangere Frauen, unter Umständen Nahrungsergänzungsmittel benötigen (FAO 2013). Es gibt verschiedene effektive Methoden zur Steigerung der Vielfalt in der Ernährung, darunter das Anlegen von Hausgärten, Maßnahmen zur Ernährungsbildung und Verhaltensänderung bezüglich der Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern und der Zubereitung von Lebensmitteln sowie Tipps zur Lagerung und Haltbarmachung zur Vermeidung von Nährstoffverlusten.
Anreicherung kommerzieller Lebensmittel
Die Anreicherung (Fortifizierung) kommerzieller Lebensmittel, bei der Grundnahrungsmittel oder Zutaten bei der Herstellung mit Spuren von Mikronährstoffen angereichert werden, hilft den Verbrauchern, die empfohlenen Mengen an Mikronährstoffen zu sich zu nehmen. Die Fortifizierung ist eine leicht ausweitbare, nachhaltige und kosteneffiziente Strategie des öffentlichen Gesundheitswesens und wurde vor allem bei der Jodierung von Salz mit großem Erfolg umgesetzt: Heute haben 71 Prozent der Weltbevölkerung Zugang zu jodiertem Salz, und seit 2003 ist die Anzahl der Länder mit Jodmangel von 54 auf 32 gesunken (Andersson, Karumbunathan und Zimmermann 2012).
Zu den Methoden der Fortifizierung gehören die Anreicherung von Weizenmehl mit Vitaminen der B-Gruppe, Eisen und/oder Zink sowie die Hinzugabe von Vitamin A zu öl und Zucker. Die Anreicherung ist vor allem für städtische Verbraucher von Nutzen, die kommerziell verarbeitete und angereicherte Nahrungsmittel kaufen. Konsumenten in ländlichen Gebieten, die oft gar keinen Zugang zu kommerziell hergestellten Lebensmitteln haben, werden von dieser Maßnahme kaum erreicht. Um denjenigen zugutezukommen, die sie am dringendsten brauchen, sollte die Anreicherung subventioniert oder gesetzlich vorgeschrieben werden, da Verbraucher sonst dazu tendieren könnten, preisgünstigere, nichtangereicherte Alternativen zu kaufen.
Die Fortifizierung hat jedoch eine Reihe von Nachteilen. Die Menschen können Vorbehalte gegen angereicherte Nahrungsmittel haben. In Pakistan meiden zum Beispiel nach Angaben der Micronutrient Initiative 30 Prozent der Bevölkerung den Verzehr jodierten Salzes, weil sie glauben, dass Jod zu Unfruchtbarkeit führe und weil es seit 1995 Gerüchte über einen geheimen Plan zur Reduzierung des pakistanischen Bevölkerungswachstums gibt (Leiby 2012). Außerdem kann es schwierig sein, die angemessene Menge von Nährstoffen in den Nahrungsmitteln zu bestimmen. Die Verbindungen, die zur Anreicherung verwendet werden, können instabil sein und bei der Lagerung oder der Verarbeitung verloren gehen. Darüber hinaus lehnen Konsumenten den Gebrauch fortifizierter Nahrungsmittel möglicherweise ab, weil diese den Kochvorgang oder den Geschmack verändern. Auch die Bioverfügbarkeit, also der Grad oder der Anteil eines Mikronährstoffes, der vom Körper aufgenommen werden kann, kann eingeschränkt sein. Dennoch weisen die Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass Akzeptanz und Wirksamkeit der Anreicherung auf Haushaltsebene wachsen (Adu-Afarwuah et al. 2008; Dewey, Yang und Boy 2009; De-Regil et al. 2013).
Biofortifizierung
Bei der Biofortifizierung handelt es sich um eine relativ neue Maßnahme, bei der mit konventionellen oder transgenen Methoden Nahrungspflanzen mit einem höheren Mikronährstoffgehalt gezüchtet werden.
Züchter verbessern außerdem die Erträge oder die Widerstandsfähigkeit gegen Schädlinge sowie Eigenschaften, die für den Verzehr wichtig sind, wie zum Beispiel Geschmack oder Kochzeit, um so die konventionellen Sorten zu übertreffen. Bis heute wurden nur konventionell gezüchtete biofortifizierte Pflanzen für die Landwirtschaft freigegeben. Beispiele sind die orangefleischige Vitamin-A-Süßkartoffel, Vitamin-AMais, Vitamin-A-Maniok, mit Eisen angereicherte Bohnen und Perlhirse sowie mit Zink angereicherter Reis und Weizen. Biofortifizierte Sorten sind zwar noch nicht in allen Entwicklungsländern erhältlich, jedoch wird innerhalb der nächsten fünf Jahre eine beträchtliche Zunahme der Biofortifizierung erwartet (Saltzman et al. 2013).
Biofortifizierte Nahrungsmittel könnten Menschen, die von anderen Maßnahmen nicht erreicht werden, eine beständige und sichere Versorgung mit bestimmten Mikronährstoffen bieten. Im Gegensatz zur industriellen Anreicherung von Lebensmitteln, die bei erfolgreicher Ausdehnung zumeist eher die Stadtbewohner als die Landbevölkerung erreicht, zielt die Biofortifizierung zunächst auf ländliche Gegenden ab, wo die Nahrungsmittel produziert werden. Erwirtschaftete Überschüsse der biofortifizierten Sorten könnten in Einzelhandelsgeschäften verkauft werden und damit zuerst die Bevölkerung in ländlichen Gebieten und dann in den Städten erreichen.
Da mit der Biofortifizierung von Grundnahrungsmitteln weder ein so hoher Gehalt noch eine so große Vielfalt an Mineralstoffen und Vitaminen erreicht werden kann wie mit der Supplementierung oder industriellen Anreicherung von Lebensmitteln, ist diese Methode nicht als Lösung für klinische Mikronährstoffdefizite geeignet. Sie kann jedoch dazu beitragen, Lücken in der Mikronährstoffversorgung zu schließen und die tägliche Aufnahme von Vitaminen und Mineralstoffen im Laufe des Lebens zu steigern (Bouis et al. 2011). Die Belege für die Wirksamkeit der Biofortifizierung sind noch nicht vollständig, aber verschiedene Nahrungspflanzen (mit Eisen angereicherte Bohnen, Perlhirse und Reis sowie mit Vitamin A angereicherte Süßkartoffeln, Mais und Maniok) zeigen Hinweise auf einen verbesserten Mikronährstoffstatus der Konsumenten (Haas et al. 2005, 2011, 2013, 2014; Luna et al. 2012; Scott et al. 2012; Pompano et al. 2013; De Moura et al. 2014; Tanumihardjo et al. 2013; Talsma 2014; van Jaarsveld et al. 2005). Durch die Biofortifizierung der orangefleischigen Süßkartoffel konnte der Vitamin-A-Konsum von Müttern und Kleinkindern signifikant verbessert werden (Hotz et al. 2012a; Hotz et al. 2012b).
Nahrungsergänzung (Supplementierung)
Die Nahrungsergänzung mit Vitamin A ist eine der kosteneffizientesten Maßnahmen zur Verbesserung der Überlebensrate von Kindern (Tan- Torres Edejer et al. 2005). Zwischen 1999 und 2005 konnte die Verteilung um mehr als das Vierfache ausgeweitet werden und deckte damit Schätzungen zufolge 2012 nahezu 70 Prozent des Versorgungsbedarfs weltweit ab (UNICEF 2014b). Da Programme zur Supplementierung von Vitamin A mit einem reduzierten Gesamtsterblichkeitsrisiko und verringertem Auftreten von Durchfallerkrankungen in Verbindung gebracht werden, sind sie häufig Bestandteil nationaler Gesundheitspläne. Laut UNICEF müssen mindestens 70 Prozent aller Kleinkinder im Alter von sechs bis 59 Monaten alle sechs Monate mit Vitamin-A-Ergänzungsmitteln versorgt werden, damit die angestrebte Reduzierung der Kindersterblichkeit erreicht wird. Leider variiert aufgrund von Schwankungen in der Finanzierung die Reichweite der Versorgung in vielen Schwerpunktländern stark von Jahr zu Jahr. Außerdem zielt die Vitamin-A-Supplementierung im Allgemeinen lediglich auf gefährdete Bevölkerungsgruppen im Alter zwischen sechs Monaten und fünf Jahren ab.
Andere Mikronährstoffdefizite werden weniger häufig durch Nahrungsergänzung bekämpft. In manchen Ländern werden schwangeren Frauen Eisen- und Folsäure-Präparate verschrieben; allerdings sind der Anteil der Frauen, denen diese Maßnahme zugutekommt, und die Einnahmedisziplin häufig gering. Die Nahrungsanreicherung mit Mikronährstoffpulver und fetthaltigen Nahrungsergänzungen für Kinder auf Haushaltsebene kann mehrere Mikronährstoffe, wie Eisen und Zink, enthalten. Allerdings ist es schwieriger als bei Vitamin-A-Präparaten, eine große Anzahl von Familien dazu zu bringen, diese zu akzeptieren. Der Lernprozess bei den Betroffenen kann hier langwierig sein. Bei einer Versuchsreihe im ländlichen China stellten ungefähr die Hälfte der Eltern oder Großeltern die Gabe von Nahrungsergänzungsmitteln, die Sojabohnen, Eisen, Zink, Kalzium und Vitamine enthielten, an die Kinder ein, weil sie vermuteten, dass die kostenlosen Supplemente schädlich oder gefälscht waren. Außerdem befürchteten sie, im Nachhinein dafür bezahlen zu müssen (The Economist 2014).
Ausblick
Um das komplexe Problem des verborgenen Hungers zu lösen, ist ein breites Spektrum von Maßnahmen erforderlich. Nur ein sektorübergreifender Ansatz kann die zugrunde liegenden Ursachen nachhaltig auf nationaler und internationaler Ebene bekämpfen. Nationale Regierungen müssen verborgenen Hunger geschlossen angehen, damit dem Problem die angemessene Aufmerksamkeit zuteil wird. Nur wenn alle Ministerien, darunter die Ressorts für Landwirtschaft, Gesundheit, kindliche Entwicklung, Bildung sowie mit Zulassungsverfahren befasste Stellen, gemeinsame Anstrengungen zur Verbesserung der Nahrungs- und Ernährungssicherheit unternehmen, haben sie eine realistische Erfolgschance. Die Initiative Scaling Up Nutrition (SUN) liefert ein Modell für eine sektorübergreifende Zusammenarbeit, die Menschen und Ressourcen auf nationaler Ebene für die Verbesserung der Ernährung zusammenbringt (SUN 2014). Wichtige Komponenten der Bekämpfung verborgenen Hungers sind:
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Maßnahmen zur Verhaltensänderung, die darauf abzielen, die Nutzung von Gesundheitsdiensten, sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen sowie das Hygieneverhalten zu verbessern, um Frauen, Säuglinge und Kleinkinder vor Krankheiten zu schützen, die ihre Nährstoffaufnahme beeinträchtigen;
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Botschaften, die optimale Vorgehensweisen (Best Practices) unterstützen, so zum Beispiel frühes ausschließliches Stillen bis zum Alter von sechs Monaten und anschließendes Stillen mit angemessener und ausreichender Beikost bis zum Alter von 24 Monaten als kostengünstige und nachhaltige Methode, um verborgenem Hunger bei Kindern vorzubeugen;
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soziale Sicherung für arme Menschen, die ihnen Zugang zu nährstoffreichen Lebensmitteln und Schutz vor extremen Preisanstiegen bietet, sowie
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Empowerment von Frauen durch verbesserten Zugang zu Bildung.
Es wird nicht leicht, verborgenen Hunger aus der Welt zu schaffen. Große Herausforderungen stehen bevor. Sie können jedoch bewältigt werden, wenn genügend Ressourcen bereitgestellt, die richtigen Strategien entwickelt und die richtigen Investitionen getätigt werden (Fan und Polman 2014). Es gibt noch viel zu tun, um zu gewährleisten, dass Menschen überall auf der Welt Zugang zu nährstoffreicher Nahrung bekommen, die sie und ihre Gemeinschaften brauchen, um ihre Gesundheitssituation zu verbessern und ihr volles Entwicklungspotenzial zu entfalten.
Fußnoten
- Bei der konventionellen Züchtung werden Elternlinien mit hohem Vitamin- und Mineralstoffgehalt über mehrere Generationen miteinander gekreuzt, um so Pflanzen mit den gewünschten Eigenschaften zu erhalten. Transgene Ansätze, bei denen Gene manipuliert oder neue Gene eingesetzt werden, dienen dazu, Nährstoffe in eine Nahrungspflanze einzuführen, die nicht natürlich in ihr vorkommen (zum Beispiel Provitamin A in Reis).