Ungleichheit, Hunger und Fehlernährung:
Die Bedeutung von Macht
Bäuerinnen und Bauern in Bangkok, Thailand, fordern 2014 während einer Kundgebung von der Regierung durch eine gescheiterte Reis-Subventionsregelung ausstehende Zahlungen ein. In vielen Ländern haben KleinproduzentInnen keinen Einfluss auf nationale und globale Ernährungspolitiken, die sich jedoch auf sie auswirken.
In derselben Welt, in der etwa 800 Millionen Menschen hungern und zwei Milliarden Menschen an unterschiedlichen Formen der Fehlernährung leiden, ist ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung fettleibig, und ein Drittel aller Nahrungsmittel wird verschwendet oder vergeudet (IFAD/FAO/WFP 2011; FAO 2011). Es gibt also nicht nur enorme Probleme im Welternährungssystem, sie sind außerdem ungleich verteilt. Dabei leiden bezeichnenderweise diejenigen Gruppen an Hunger oder Fehlernährung, deren soziale, ökonomische oder politische Macht am geringsten ist – ob sie nun in den abgelegenen ländlichen Gebieten armer Länder mühsam ihren Lebensunterhalt sichern oder in marginalisierten Gemeinden in den Großstädten reicher Länder leben.
Diese ungleiche Verteilung von Hunger und Fehlernährung liegt in einem sozialen, politischen und ökonomischen Machtgefälle begründet. Um sie zu bekämpfen, müssen wir zunächst verstehen, wie die ungleiche Verteilung des Hungers mit den asymmetrischen Machtverhältnissen im Ernährungssystem zusammenhängt und durch diese verstärkt wird. Das Wirken der Macht ist oft unsichtbar und die Verknüpfungen sind so komplex, dass selbst die ausgereiftesten und fortschrittlichsten Ansätze zur Hungerbekämpfung langfristig scheitern können. Wenn politische Strategien dies nicht berücksichtigen, haben sie wenig Aussicht auf Erfolg, auch wenn sie praktisch und fachlich einwandfrei sind.
Wie führen ungleiche Machtverhältnisse zu ungleichen Ernährungsverhältnissen? Macht ist definiert als „das Maß an Kontrolle über materielle, personelle, intellektuelle und finanzielle Ressourcen, die ... in den sozialen, ökonomischen und politischen Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen ausgeübt wird“ (VeneKlasen und Miller 2002, 41). Macht mag ein abstraktes Konzept sein, ihre Wirkung aber ist konkret. In Ernährungssystemen wird Macht auf verschiedene Weisen und von einer Vielzahl von Akteuren ausgeübt: durch Konzentrationen von Kapital- und Marktanteilen, die es Agribusiness-Unternehmen ermöglichen, den Preis, die Verfügbarkeit und Qualität von Lebens- und Produktionsmitteln zu beeinflussen; von Regierungsbehörden, internationalen Organisationen oder öffentlich-privaten Partnerschaften, die ernährungspolitische Strategien beeinflussen, implementieren oder blockieren können und, mithilfe ihrer intellektuellen oder organisatorischen Ressourcen, Debatten bestimmen und die öffentliche Meinung mobilisieren können; oder auch von Einzelpersonen, die über Haushaltsausgaben und Familienmahlzeiten entscheiden.
Olivier de Schutter, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung von 2008 bis 2014, hat es im Global Nutrition Report 2015 so formuliert: „Ernährungssysteme werden durch politische Entscheidungen bestimmt sowie durch die vielfältige Macht der Akteure, diese Entscheidungen zu beeinflussen“ (IFPRI et al. 2015, 96).
Globale politische Debatten greifen zunehmend die Machtverhältnisse auf, welche die Hunger und Fehlernährung zugrunde liegenden Ungleichheiten befördern und aufrechterhalten. Allerdings geschieht dies höchst unsystematisch. So wird beispielsweise angemerkt, welche Macht Männer in armen Haushalten über Frauen ausüben, während der Einfluss der großen Unternehmen auf nationale Ernährungspolitiken, lokale Märkte und das individuelle Ernährungsverhalten außer Acht gelassen wird. Das ist insbesondere deshalb problematisch, da Macht sich, gemessen an finanziellem Gewicht und geografischer Ausbreitung, vor allem in den Händen großer transnationaler Lebensmittelkonzerne konzentriert (Howard 2016). Diese Ballung von Marktmacht steht auch in Zusammenhang mit der Zunahme von Übergewicht und Fettleibigkeit in Ländern, die sich im Übergang von einem niedrigen zu einem mittleren Einkommensstatus befinden (Baker und Friel 2014; Malik, Willett und Hu 2013; Monteiro et al. 2013). Es ist deshalb wichtig, die Aufmerksamkeit auf die Bereiche des Ernährungssystems zu lenken, in denen die Machtgefälle hinterfragt, bekämpft und verändert werden.
Ernährungssysteme werden durch politische Entscheidungen bestimmt sowie durch die vielfältige Macht der Akteure, diese Entscheidungen zu beeinflussen. Olivier de Schutter,
ehem. UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung
Im Jahr 2016 traten die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) der Vereinten Nationen in Kraft. Sie sollen in den nächsten 15 Jahren als Orientierung dienen, um „alle Formen von Armut zu beenden, Ungleichheit zu bekämpfen, den Klimawandel zu bewältigen und dabei niemanden zurückzulassen“ (UN 2016). Das zweite der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG 2) lautet, „den Hunger zu beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung zu erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft zu fördern“ (UN 2014). Es lässt jedoch außer Acht, auf welch unterschiedliche Weisen verschiedene Gruppen von Fehlernährung betroffen sind. SDG 10 zielt unterdes darauf ab, ökonomische, soziale, gesundheitsbezogene und politische Ungleichheiten abzubauen, erwähnt jedoch weder Hunger noch Ernährung, obwohl vorwiegend ökonomisch, sozial, politisch und geografisch benachteiligte Gruppen von Hunger und Mikronährstoffmangel sowie von Übergewicht und Fettleibigkeit betroffen sind.
Verflechtung von Ungleichheiten
Das Zusammentreffen von Fehlernährung und Formen der Ungleichheit spiegelt wider, wie das Ernährungssystem die ökonomischen, sozialen und politischen Disparitäten zusätzlich verstärkt. Die katastrophalste Offenbarung der Ungleichheit im globalen Ernährungssystem waren die akuten Nahrungsmittelkrisen und Hungersnöte in den Jahren 2016 und 2017, von denen 108 Millionen Menschen, hauptsächlich in Ostafrika und im Nahen Osten, betroffen waren (FAO 2017c; FSIN 2017). Die Ursachen der „neuen Hungersnöte“ des 21. Jahrhunderts lagen meist in bewaffneten Machtkämpfen, im Zuge derer die Kriegsparteien Hunger als Waffe einsetzten (Devereux 2006; Maxwell und Fitzpatrick 2012). Die Nahrungsmittelkrisen in den Jahren 2016 und 2017 standen zwar in Zusammenhang mit der Dürre in Ostafrika, trafen aber Menschen, die aufgrund von Gewalt, Vertreibung, des Klimawandels oder hoher Lebensmittelpreise bereits an Hunger oder Unterernährung litten (FAO 2017c).
Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern wird weithin als wesentliches Element der ernährungsbezogenen Ungleichheit anerkannt. Viele Formen chronischer Mangelernährung sind eng verbunden mit geringem Geburtsgewicht und dem Ernährungszustand von Säuglingen und Kindern, was wiederum mit der fehlenden Macht von Frauen auf Haushaltsebene und in der Gesellschaft zusammenhängt. Die Geschlechterverhältnisse haben bei erforderlichen Rationierungen der Mahlzeiten oft die Begünstigung von Jungen zur Folge. In den meisten Fällen besteht tendenziell eine Korrelation zwischen der Gleichberechtigung der Geschlechter und einem besseren Ernährungszustand (Osmani und Sen 2003; Bhagowalia et al. 2015; Malapit und Quisumbing 2015; Cunningham et al. 2015; van den Bold, Quisumbing und Gillespie 2013; Agustina et al. 2015; Darnton-Hill und Cogill 2010). Unter der Ermächtigung von Frauen wird jedoch üblicherweise verstanden, dass man ihre Kaufkraft und ihren Einfluss auf Entscheidungen im Haushalt stärkt, statt den Mangel an kollektiver Macht von Frauen auf höheren Ebenen im Ernährungssystem zu beseitigen, auf denen beispielsweise Debatten über Landwirtschafts- und Handelspolitik geführt werden, welche sich direkt auf Hunger und Ernährung auswirken.
Als Achsen der Ungleichheit überschneiden sich Geschlecht, sozioökonomische Klasse und geografische Herkunft; oft sind die beiden Letzteren noch entscheidender als das Geschlecht. Dies belegen Daten aus Ostafrika (Abb. 3.1). In äthiopien, Tansania und Uganda etwa sind Kinder mit geringerer Wahrscheinlichkeit wachstumsverzögert, wenn sie in der Hauptstadt, also nahe an den Zentren der Macht, leben.
Um die Schnittstellen zwischen Macht und Ernährungssystem zu erkennen, genügt ein Blick auf den schlechten Ernährungszustand vieler indigener Völker, die oft von Armut und soziopolitischer Marginalisierung gleichermaßen betroffen sind (Valeggia und Snodgrass 2015). In Lateinamerika leiden viele Länder massiv unter dem Nebeneinander von Unterernährung und Überernährung (Rivera et al. 2014). Beinahe die Hälfte aller Kinder in Guatemala sind wachstumsverzögert, aber die doppelte Last der Fehlernährung wiegt am schwersten unter der indigenen Bevölkerung im Hochland: in mehr als einem Viertel der Familien sind die Kinder wachstumsverzögert und die Mütter übergewichtig (Ramirez-Zea et al. 2014).
Die Ungleichheiten in Bezug auf Hunger und Ernährung werden auch dadurch bestimmt, welchen Zugang Menschen zu den sich wandelnden Nahrungsmittelmärkten haben (Hossain et al. 2015). Im städtischen Raum sind marginalisierte Menschen oft in für sie nachteilige marktbasierte Ernährungssysteme einbezogen. Sie leben in sogenannten „food deserts“ (Nahrungswüsten, also Gebiete ohne Zugang zu frischen, vollwertigen Nahrungsmitteln) oder können sich gesunde Lebensmittel, wenn diese verfügbar sind, nicht leisten (Walker, Keane und Burke 2010). Es überrascht daher wenig, dass in Ländern mit hohem Einkommen, einschließlich Australien und Kanada, die Wahrscheinlichkeit, fettleibig zu sein, für indigene Menschen eineinhalb Mal so hoch ist wie für nicht indigene Menschen in vergleichbaren Gebieten (Egeland und Harrison 2013). In den USA ist der Anteil von Fettleibigen in den Bevölkerungsgruppen am höchsten, die das niedrigste Einkommen haben und Rassismus und Marginalisierung ausgesetzt sind (Ogden et al. 2015; CDC 2017).
Macht verstehen
Die ungleiche Verteilung von Hunger und Fehlernährung spiegelt die tiefer greifende Ungleichverteilung von Macht in der Gesellschaft wider. Und dennoch taucht die Machtfrage in den weltweiten Debatten über Ernährungspolitik nur hin und wieder auf. Diese Debatten konzentrieren sich zudem tendenziell auf die Machtverteilung auf Haushaltsebene sowie auf die Verpflichtung der Regierungen zur Ernährungssicherung (Gillespie et al. 2013; Reich und Balarajan 2014; te Lintelo und Lakshman 2015) und vernachlässigen die Macht, die auf höherer Ebene oder in schwieriger zu messenden Formen ausgeübt wird.
Macht ist ein unumgänglicher Faktor bei jeglicher Analyse von Hunger und Fehlernährung. Ohne eine systematische und gezielte Analyse werden jedoch Schlüsselfragen in der Diskussion nicht thematisiert, etwa welche Folgen es hat, dass transnationale Konzerne eine zentrale Rolle im Welternährungssystem spielen (Clapp 2012; Howard 2016).
Diese Konzerne verfügen im Welternährungssystem mittlerweile über so viel Macht, dass sie weitgehend darüber bestimmen, welche Lebensmittel wie von den Produzierenden zu den KonsumentInnen gelangen. Dieses System wird oft als Sanduhr dargestellt: Millionen von Bäuerinnen und Bauern weltweit produzieren Nahrungsmittel, und jeder Mensch auf dieser Welt isst. Aber die Nahrungsmittel „from farm to fork“ (also von ErzeugerInnen zu VerbraucherInnen) zu bringen, bleibt zunehmend einigen wenigen Großhändlern, Lieferanten, Einzelhändlern sowie Weiterverarbeitungsund Verpackungsunternehmen überlassen. Drei transnationale Konzerne – Monsanto, DuPont und Syngenta – beherrschen den weltweiten Handelsverkehr mit Saatgut (Howard 2009); drei weitere – ADM, Bunge und Cargill – bestimmen den Großteil des internationalen Getreidehandels (Hendrickson et al. 2008). Die 100 größten Unternehmen kontrollieren 77 Prozent des weltweiten Handels mit verarbeiteten Lebensmitteln, und dieser Anteil steigt (Clapp und Scrinis 2017). Oft hat die öffnung der Ernährungssysteme für den Welthandel zur Folge, dass Menschen zu billigen verarbeiteten Lebensmitteln wechseln, was zur doppelten Last der Fehlernährung führt (Monteiro et al. 2013).
Die Analyse von Macht im Ernährungssystem kann Erkenntnislücken schließen sowie Handlungsansätze und mögliche Bündnispartner aufzeigen. Sie wäre für politische EntscheidungsträgerInnen von Nutzen, um realistische Ernährungsstrategien und -maßnahmen auszuarbeiten. Ist es beispielsweise realistisch, von Milliarden Menschen zu erwarten, dass sie sich gesünder ernähren, während aggressive Werbung und ein Überangebot an verlockenden und erschwinglichen Lebensmittelprodukten dem entgegenwirkt (Brownell et al. 2010)? Und geht das Stillen wirklich auf eine rein individuelle Entscheidung zurück? Diese ist häufig von Faktoren abhängig, die sich der Kontrolle der Mütter entziehen – ob beispielsweise für berufstätige Mütter ein Mutterschutz vorgesehen ist oder Verbote die Verteilung von Muttermilchersatz-Proben reglementieren (Rollins et al. 2016). Das Stillen als Frage einer individuellen Entscheidung darzustellen, entlässt die milliardenschwere Industrie für Muttermilchersatznahrung aus der Verantwortung, obgleich diese mit vereinten Anstrengungen versucht, Mütter zum Kauf ihrer Produkte zu bewegen. Nur über die Vorteile des Stillens zu informieren, schafft kein ausreichendes Gegengewicht zu der enormen Vermarktungsmacht dieser Industrie. Initiativen zur Förderung des Stillens sollten daher ihre Bemühungen auch dorthin lenken, wo die Produzenten von Muttermilchersatz ihre Entscheidungen treffen. Aktuell konzentrieren sich jedoch die meisten BCC-Programme (Behaviour Change Communication) darauf, das individuelle Verhalten zu verändern und nicht die Strukturen, die dieses Verhalten bestimmen (USAID/SPRING/GAIN 2014).
Raum für Wandel
Macht ist weder monolithisch noch unveränderlich. Sie wird in einer Vielzahl von Formen, auf verschiedenen Ebenen und in zahlreichen institutionellen Räumen ausgeübt. Es gibt unzählige Möglichkeiten für AktivistInnen, PraktikerInnen und politische EntscheidungsträgerInnen, sich für einen Wandel einzusetzen. Die enormen Ungleichheiten im Ernährungssystem haben eine Vielzahl von Anstrengungen ausgelöst, sich den Machtverhältnissen zu widersetzen und diese neu zu gestalten. Eine Auswahl dieser Ansätze illustriert sowohl deren Potenzial als auch die Herausforderungen, mit denen diese Bemühungen konfrontiert sind.
Im vergangenen Jahrzehnt gab es eine beispiellose Zunahme vorgegebener Partizipationsräume („invited spaces“) für ernährungsbezogenen Dialog und entsprechende Advocacy-Arbeit. Prinzipiell bieten diese Räume Möglichkeiten, die Mächtigen infrage zu stellen oder zur Rechenschaft zu ziehen. An der internationalen Initiative „Scaling Up Nutrition“ (SUN) etwa sind 59 nationale Regierungen ebenso beteiligt wie VertreterInnen der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft, von Geldgebern und Netzwerken der Vereinten Nationen. Das Ziel ist die „Beendigung der Fehlernährung in all ihren Formen“, indem Fortschritte auf dem Gebiet der Ernährung angestoßen, unterstützt und kontrolliert werden. Die Global Alliance for Improved Nutrition (GAIN) will unterdes „Lösungen für das komplexe Problem der Fehlernährung finden und anbieten“, indem Bündnisse zwischen öffentlichem und privatem Sektor und der Zivilgesellschaft geschlossen werden.4
Sowohl SUN als auch GAIN nehmen Multistakeholder-Partnerschaften ernst. Das Machtungleichgewicht zwischen hungernden und fehlernährten Menschen auf der einen und transnationalen Konzernen auf der anderen Seite ist jedoch derart ausgeprägt, dass es fraglich ist, ob durch Entscheidungen und Bündnisse, die innerhalb solcher Strukturen getroffen oder eingegangen werden, eine Veränderung der Machtverhältnisse im Ernährungssystem herbeigeführt werden kann. Ist es VertreterInnen alternativer Sichtweisen möglich, Zugang zu diesen Foren zu erhalten? Diese Fragen verdienen eine nähere Betrachtung. Viel bleibt noch zu tun, um gleichberechtigte Räume für globale politische Debatten zu schaffen, in welche die Interessen jener, die über wenig Macht verfügen und am stärksten von Hunger und Fehlernährung bedroht sind, maßgeblich einbezogen werden.
„Invited spaces“ aber können Möglichkeiten für einen ehrlichen Dialog mit den Mächtigen schaffen, insbesondere wenn es um das Handeln nationaler Regierungen geht, die nach wie vor die Gestaltungsmacht über ihre Ernährungssysteme beanspruchen können (Pritchard et al. 2016) und die Pflicht zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit haben. Initiativen wie der Hunger and Nutrition Commitment Index (für die Bewertung der Anstrengungen von Regierungen zur Reduktion von Hunger und Unterernährung) wollen zugunsten von Reformen und Rechenschaftslegung nationaler Regierungen Druck aufbauen und aufrechterhalten, indem sie Daten zu Hunger und Mangelernährung erheben und politische Veränderungen beobachten (IFPRI 2015). Damit solche Bemühungen wirksam sind, müssen sie „Zähne haben“, also die Macht, Sanktionen einzuleiten oder änderungen durchzusetzen (Fox 2015). Die namentliche Nennung und Bloßstellung („naming and shaming“) funktioniert nur bei AkteurInnen, die für eine solche Bloßstellung sensibel sind. Eine bessere ernährungsbezogene Datenlage allein garantiert somit noch kein verstärktes Engagement der Regierungen im Kampf gegen Hunger und Fehlernährung (CSM 2016). Agribusiness-Unternehmen wiederum interessieren sich möglicherweise nicht für ihr Bild in der öffentlichkeit oder sind immun gegen Forderungen nach Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht. Sie können nur dort getroffen werden, wo es ihnen wirklich wehtut: bei ihrem Gewinn.
Bürgerbewegungen für Ernährungssouveränität
Es gibt zahlreiche Bewegungen – hervorgegangen aus Konflikten um Landwirtschaft, Rechte von Bäuerinnen und Bauern, Armut und Hunger –, die auf Graswurzelebene tätig sind und deren Zugang zu „invited spaces“ beschränkt ist. Transnationale Bewegungen für Ernährungssouveränität und -gerechtigkeit wollen die Macht im Ernährungssystem radikal umverteilen (Holt-Giménez und Shattuck 2011; Holt-Giménez und Patel 2012). Sie vereinen Menschen, die im Welternährungssystem kaum Macht für sich beanspruchen können, und wollen praktikable agrarökologische Alternativen zu gängigen landwirtschaftlichen Praktiken aufzeigen (Edelman 2003; Holt-Giménez und Altieri 2013).
Unter Federführung der internationalen kleinbäuerlichen Bewegung La Via Campesina strebt die Bewegung für Ernährungssouveränität nach einer Verlagerung der Kontrolle weg von den transnationalen Konzernen hin zu den KonsumentInnen und kleinbäuerlichen Produzierenden. Diese erlangen dadurch „Souveränität“, können also eigenverantwortlicher entscheiden, welche Lebensmittel sie anbauen und essen (Patel 2009).5 Die Bewegungen für Ernährungssouveränität und -gerechtigkeit sind davon überzeugt, dass das Ernährungssystem die Ernährung besser und ökologisch nachhaltiger gewährleisten könnte, wenn die Kontrolle – über Land und Betriebsmittel, lokale Märkte und nationale Strategien – an diejenigen zurückgegeben würde, die aktuell nur über begrenzte Macht verfügen. In den letzten zehn Jahren trugen diese Bewegungen wesentlich dazu bei, eine Debatte über die menschlichen und ökologischen Kosten der Globalisierung des Ernährungssystems anzustoßen und Alternativen aufzuzeigen.
Nationale Bewegungen für das Recht auf Nahrung und ihre UnterstützerInnen, etwa das Global Network for the Right to Food and Nutrition, artikulieren – oft außerhalb von „invited spaces“ – aus der Bevölkerung kommende Handlungsanstöße im Rahmen der internationalen Menschenrechte. Sie kämpfen für Rechenschaftslegung in Bezug auf Hunger und kombinieren zu diesem Zweck die Erhebung empirischer Daten und öffentlichkeitswirksame Kampagnen mit Graswurzel- Bemühungen zur Mobilisierung sowie zum Schutz und zur Achtung von Rechten. Solche Bewegungen schaffen es manchmal, in politische Räume vorzustoßen, die ihnen früher verschlossen waren, und damit die Machtverhältnisse in unerwartete Richtungen zu verschieben. Dies geschah etwa im Fall des Committee on World Food Security (CFS), das nun als das „inklusivste Gremium“ der Vereinten Nationen gilt.
Von der Bevölkerung gefochtene Kämpfe um die Macht im Ernährungssystem schließen auch durch Nahrungsmittelkrisen bedingte Unruhen ein. Derartige Aufstände greifen meist dann um sich, wenn die Lebensmittelpreise außer Kontrolle geraten, wie es während der globalen Nahrungsmittelpreisspitzen in den Jahren 2008 und 2010 bis 2011 der Fall war (Bohstedt 2016; von Braun 2010). Zwischen 2007 und 2012 brachen in mehr als 30 Ländern Unruhen aus und prägten die politischen Reaktionen auf die Nahrungskrisen in diesen Jahren (Berazneva und Lee 2013; Hendrix und Haggard 2015; Arezki und Bruckner 2011; Bellemare 2015; Schneider 2008). So haben durch Nahrungsmittelpreise entfachte Proteste im Nahen Osten und in Nordafrika den Arabischen Frühling mit ausgelöst (Lagi, Bertrand und Bar-Yam 2011).
Revolten aufgrund von Nahrungsmittelpreisen stehen oft in Zusammenhang mit tiefer liegenden Auseinandersetzungen über wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Sie sind stark verankert in kollektiven Vorstellungen über die Moral von Ernährungssystemen sowie im Kampf um Löhne, Arbeitsbedingungen und bürgerliche und politische Rechte (Hossain und Kalita 2014; Hossain und Scott-Villiers, im Erscheinen). Solche Ausbrüche von Gewalt dringen in den politischen Raum vor. Sie machen sich die Macht der Massenmedien zunutze, um die Aufmerksamkeit der politischen Eliten zu gewinnen (Swinnen, Squicciarini und Vandemoortele 2011) und ihre Anliegen auf die politische Agenda zu bringen (de Brito et al. 2014). Aus Angst vor weiteren Unruhen und dem Verlust politischer Legitimität reagierten die politischen Eliten zwischen 2007 und 2012 vielfach auf den Zorn der Bevölkerung: Sie setzten öffentlichkeitswirksame Maßnahmen gegen Spekulanten in Gang, stabilisierten die lokalen Preise mittels Marktinterventionen und Getreidereserven, versorgten die am stärksten Gefährdeten mit Bargeld oder Nahrungsmitteln und investierten in die heimische Landwirtschaft (Hossain und Scott-Villiers, im Erscheinen). Durch Nahrungsmittelkrisen bedingte Unruhen sind eine unerwünschte, aber wahrscheinliche Konsequenz, wenn die Bevölkerung die Kontrolle über ihre Ernährungssysteme verliert. In manchen Fällen können sie allerdings zu einer Wiederherstellung des Gleichgewichts dieser Systeme führen.
Niemanden zurücklassen
Die ungleiche Verteilung von Hunger und guter Ernährung spiegelt das Machtgefälle im Ernährungssystem wider: Am einen Ende des Systems leiden Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie schlecht bezahlte Lebensmittelproduzierende Not; am anderen Ende kämpfen jene mit Hunger und Fehlernährung, die aus den globalisierten Nahrungsmittelmärkten ausgeschlossen oder zu ihrem Nachteil darin eingebunden sind. Die wachsende Macht der transnationalen Konzerne darüber, was wir essen, hat ein breites Spektrum an Widerstandsformen geschaffen. Die Analyse der Machtverhältnisse hält uns dazu an, hinter das Offensichtliche und Messbare zu schauen, herauszufinden, wie sich Interessen auf verschiedenen Ebenen des Ernährungssystems auswirken, Handlungsmöglichkeiten wahrzunehmen und in Bereiche vorzudringen, in denen Macht hinterfragt, bekämpft und neu verteilt werden kann.
Um die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen und „niemanden zurückzulassen“, braucht es Ansätze zur Bekämpfung von Hunger und Fehlernährung, die stärker auf deren Ungleichverteilung und auf Machtungleichgewichte eingehen. Die Analyse von Macht kann zu ausgleichenden Veränderungen im Ernährungssystem führen,
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wenn ForscherInnen und AnalystInnen die konzeptionellen Instrumente der Machtanalyse verwenden, um alle Formen von Macht zu benennen, die für Hunger und Fehlernährung von Menschen verantwortlich sind. Dadurch kann die Aufmerksamkeit auf Formen von Macht gelenkt werden, die schwierig zu erkennen sind, da sie beispielsweise im komplexen Geflecht von Lieferketten und Vertriebsstrukturen ausgeübt werden oder aber als „soft power“ durch Marketing, Werbung und Forschungsförderung.
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wenn entsprechende Interventionspläne strategisch stärker auf die Ebenen ausgerichtet werden, wo Macht ausgeübt wird. Es sollte aufgezeigt werden, in welchen Fällen und in welcher Form gehandelt werden muss, um Strategien, die von höheren Ebenen auf die Veränderung der Ernährungsgewohnheiten von Menschen abzielen, nicht unbeachtet zu lassen. Wirkliche Macht könnte beispielsweise dann erlangt werden, wenn Frauen sich organisieren, um die Durchsetzung von Vorschriften für Muttermilchersatzprodukte, gerechte Ernährungssicherungsprogramme für die Bereitstellung nährstoffreicher Lebensmittel oder einen stärkeren Einfluss auf ernährungspolitische Entscheidungen zu fordern.
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wenn AktivistInnen, PraktikerInnen, politische EntscheidungsträgerInnen und alle weiteren MitstreiterInnen gegen Hunger und Fehlernährung Raum für einen Wandel im Ernährungssystem ausmachen und nutzen können. Hindernisse für Reformen müssen aufgezeigt und die Regeln, nach denen Entscheidungen getroffen werden, geändert werden; Sanktionen müssen festgelegt werden, die schmerzhaft genug sind, um die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen; und die Hungernden und Fehlernährten müssen ermächtigt werden, sich gegen den Verlust an Kontrolle über ihre Ernährung zur Wehr zu setzen.
Fußnoten
- Der Begriff Ernährungssystem bezeichnet die Gesamtheit aller mit dem Essen verbundenen Aktivitäten – Herstellung, Weiterverarbeitung, Verpackung, Vertrieb, Einzelhandel, Zubereitung und Verzehr von bzw. mit Lebensmitteln – sowie ihr Zusammenspiel auf allen Ebenen und in allen Dimensionen und dessen unterschiedliche Auswirkungen (Ericksen et al. 2010).
- Ein solcherart voreingenommenes Denken findet sich nicht in allen Kulturen. Am stärksten ausgeprägt ist es tendenziell unter den ärmsten, und es kann sich abschwächen, wenn die Ernährungssicherheit verbessert wird (IFPRI 2015; Behrman 1988; Marcoux 2002).
- Die Ermächtigung von Frauen im Entwicklungskontext wurde zunehmend eng definiert und operationalisiert. Dadurch wurde die mögliche Reichweite von Ermächtigungsmaßnahmen eingeschränkt (Batliwala 2007; Cornwall und Rivas 2015).
- Die Websites von SUN und GAIN finden Sie unter. Kritische Stimmen merken an, dass GAIN durch die Unterstützung der Nahrungsmittelanreicherung neue Märkte für den Privatsektor schaffe, statt an der Beseitigung von Mangelerscheinungen zu arbeiten, die auf eine aus industriell verarbeiteten Lebensmitteln bestehende Ernährung zurückzuführen sind (Clapp und Scrinis 2017; Moodie et al. 2013; Dixon 2009).
- Für weiterführende Informationen zu La Via Campesina siehe https://viacampesina.org/ landingpage/.
- Der „Food Governance“-Blog bietet eine hochinteressante aktuelle Debatte zu Herausforderungen und Perspektiven des CFS.
Über die Autorin
Naomi Hossain ist eine politische Soziologin, die auf 20 Jahre Erfahrung in der Entwicklungsforschung und als Beraterin zurückblickt. In ihrer Arbeit konzentriert sie sich auf die Politik in Bezug auf Armut und öffentliche Verwaltung sowie zunehmend auf die politischen Auswirkungen von Subsistenzkrisen.
Sie untersuchte Armut in der Wahrnehmung von Eliten, Verantwortlichkeit im Bildungswesen und in der sozialen Sicherung sowie Empowerment von Frauen in Afghanistan, Bangladesch, Indonesien und dem UK und führte länderübergreifende Forschung in Lateinamerika, Subsahara-Afrika und Süd- sowie Südostasien durch.
Zuletzt leitete sie das DFID-ESRC-finanzierte Forschungsprojekt Food Riots and Food Rights: the moral and political economy of accountability for hunger Project (auf Dt. etwa: Hungerunruhen und das Recht auf Nahrung: die moralische und politische ökonomie der Rechenschaftslegung in Bezug auf Hunger) (2012-14) und das IDS/Oxfam GB-Forschungsprojekt Life in a Time of Food Price Volatility (auf Dt. etwa: Leben in Zeiten schwankender Nahrungsmittelpreise). Ihr Buch über die politischen Auswirkungen der Hungersnot in Bangladesch 1974, The Aid Lab, ist im Februar 2017 bei Oxford University Press erschienen.